Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
entlang, dann bogen sie auf eine Armeestraße ein, die sich hoch in die Berge über Kinjye schlängelte. Jun Do drehte sich um und blickte zur Heckscheibe hinaus. Ab und an erhaschte er einen Blick zurück auf die Stadt: schaukelnde Boote im blauen Hafen, glänzende Keramikziegel auf dem Dach des Konservenfabrikdirektors. Kurz blitzte der rote Turm zum Gedenken an den 15. April auf. Der Ort sah auf einmal wie eines der fröhlichen Dörfer aus, die die Wände der Lebensmittelausgabestellen zierten. Als sie die Bergkuppe hinter sich ließen, war nur noch die Dampfwolke von der Konservenfabrik zu sehen, ein letztes Aufblitzen des Ozeans, dann nichts mehr. Das wahre Leben hatte ihn wieder – man hatte ihn für eine neue Aufgabe eingeteilt, und Jun Do machte sich keine Illusionen darüber, was das bedeuten mochte. Er drehte sich wieder zu den beiden Anzugträgern um. Sie redeten über einen kranken Kollegen und spekulierten, ob er wohl Nahrungsmittel bei sich im Haus gehortet hatte und wer die Wohnung bekommen würde, wenn er starb.
Der Mercedes hatte Wischerblätter in den Scheibenwischern. So etwas hatte Jun Do noch nie gesehen, und das Radio war serienmäßig – man konnte damit Sender aus Südkorea und Voice of America empfangen. Allein für den Besitz eines solchen Radios konnte man im Gefängnisbergwerk landen, außer man stand über dem Gesetz. Als die Männer sprachen, fielen Jun Do ihre Goldkronen auf – etwas, was es nur in Pjöngjang gab. Ja, dachte der frisch gekürte Held, ihm mochte die scheußlichste Aufgabe seines Lebens bevorstehen.
Die beiden fuhren Jun Do ins Landesinnere zu einem verlassenen Fliegerhorst. Einige der Hangars waren zu Gewächshäusern umgebaut worden, und ringsum waren ramponierte Transportflugzeuge vom Asphalt in die Wiesen geschoben worden. Kreuz und quer lagen sie im Gras, und die Flugzeugrümpfe wurden jetzt für die Straußenzucht verwendet – durch die verschmierten Cockpitfenster blickten die Vögel ihn mit ihren großen Augen an. Der Wagen hielt vor einer kleinen Verkehrsmaschine mit laufenden Triebwerken. Zwei Männer in blauen Anzügen stiegen die Treppe herunter. Der eine war ein zierlicher, älterer Mann – wie ein Großvater, der sich die Ausgehkleidung seines Enkels geliehen hatte. Er warf einen Blick auf Jun Do und drehte sich zu dem anderen um.
»Wo ist sein Anzug?«, fragte der Ältere. »Ich habe Ihnen gesagt, dass er einen Anzug braucht, Genosse Buc.«
Genosse Buc war jung und schlank und trug eine Nickelbrille. Seine Kim-Il-Sung-Nadel saß perfekt. Über dem rechten Auge hatte er allerdings eine breite, senkrecht verlaufende Narbe: Seine Augenbraue war in zwei Stücke geteilt, die keine durchgehende Linie mehr bildeten.
»Ihr habt gehört, was Dr. Song gesagt hat«, schnauzte er die Fahrer an. »Der Mann braucht einen Anzug.«
Genosse Buc ließ den kleineren Fahrer hinter Jun Do treten und verglich ihre Schultern. Dann musste sich der größere Fahrer Rücken an Rücken mit Jun Do stellen. Als er die Schulterblätter des anderen an seinen spürte, wurde ihm auf einmal klar, dass er nie mehr zur See fahren würde, dass er nie erfahren würde, was aus der Frau des Zweiten Maats geworden war; er würde nur das Bild vor Augen haben, wie der Saum ihres gelben Kleides von einem alten Gefängnisdirektor in Sinpo befingert wurde. Er dachte an all die Funkmeldungen, die er verpassen würde, an all die Leben, die ohne ihnweitergehen würden. Sein Leben lang war er ohne Vorwarnung oder Erklärungen zu irgendwelchen Aufgaben eingeteilt worden. Fragen zu stellen hatte keinen Sinn – an der Arbeit, die getan werden musste, änderte das doch nichts. Allerdings hatte er auch noch nie zuvor etwas zu verlieren gehabt.
Dem größeren Fahrer sagte Dr. Song: »Na los, ausziehen.«
Der Fahrer pellte sich aus der Jacke. »Der Anzug kommt aus Shĕnyáng«, moserte er.
Genosse Buc beeindruckte das nicht. »Den hast du aus Hamhŭng, das weißt du ganz genau.«
Der Fahrer knöpfte die Hemdleiste und die Manschetten auf, und als er das Hemd endlich ausgezogen hatte, hielt ihm Jun Do im Gegenzug das Hemd des Zweiten Maats hin.
»Dein lausiges Hemd will ich nicht«, schnappte der Fahrer.
Bevor Jun Do das neue Hemd überziehen konnte, sagte Dr. Song: »Nicht so schnell, junger Mann. Ich will mir deinen Haibiss ansehen.« Dr. Song setzte die Brille auf und beugte sich vor. Ganz vorsichtig berührte er die Wunde und drehte Jun Dos Arm herum, um die Stiche zu betrachten.
Im
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