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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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Kameraden erzählen, der den Haien zum Fraß vorgeworfen worden ist. Von der amerikanischen Marine. Amerikaner sind sehr höfliche Menschen. Eine solche Geschichte wird sie beeindrucken, besonders die Ehefrauen.«
    Die Stewardess brachte Dr. Song ein Glas Saft, ohne Jun Do und Genosse Buc zu beachten. »Ist sie nicht wunderschön?«, fragte Dr. Song. »Das ganze Land wird durchkämmt, um solche wie sie zu finden. Für euch junge Männer zählt nur das Vergnügen, das weiß ich doch, mir braucht ihr nichts vorzumachen. Ihr könnt es wahrscheinlich kaum noch erwarten, eine appetitliche CIA-Agentin kennenzulernen. Ich muss euch leider sagen, dass sie längst nicht alle aussehen wie die verführerischen Schönheiten im Film.«
    »Ich habe noch nie einen Film gesehen«, sagte Jun Do.
    »Du hast noch nie einen Film gesehen?«, fragte Dr. Song.
    »Keinen ganzen«, sagte Jun Do.
    »Oh, die Amerikanerinnen werden dir aus der Hand fressen, Jun Do. Wart’s nur ab, bis sie die Wunde sehen! Bis sie deine Geschichte hören!«
    »Aber meine Geschichte ist so unwahrscheinlich«, entgegnete Jun Do. »Ich kann sie ja selbst kaum glauben.«
    An Genosse Buc gewandt sagte Dr. Song: »Würden Sie uns bitte den Tiger holen, mein Freund?«
    Als Buc weg war, sagte er zu Jun Do: »Wo wir herkommen, sind Geschichten Realität. Wenn der Staat einen Bauern zum Musikvirtuosen erklärt, dann tun alle gut daran, ihn vonda an Maestro zu nennen. Und er selbst täte gut daran, insgeheim Klavier zu üben. Für uns hat die Geschichte größere Bedeutung als die Person. Wenn ein Mann nicht zu seiner Geschichte passt, dann ist es der Mann, der sich ändern muss.« Dr. Song trank einen Schluck Saft, und der Zeigefinger, den er erhob, zitterte leicht. »In Amerika erzählen die Leute ständig eine andere Geschichte. In Amerika ist es der Mann, der zählt. Vielleicht glauben sie deine Geschichte, Jun Do, vielleicht auch nicht – aber dir, Jun Do, dir werden sie auf jeden Fall glauben.«
    Dr. Song rief die Stewardess herbei. »Dieser Mann ist ein Held der Demokratischen Volksrepublik Korea und muss einen Saft bekommen.« Als sie fortgeeilt war, sagte er: »Siehst du? Funktioniert.« Er schüttelte den Kopf. »Aber versuch mal, das denen unten im Bunker zu erklären.« Dr. Song zeigte nach unten, und Jun Do verstand, dass er den Geliebten Führer Kim Jong Il persönlich damit meinte.
    Genosse Buc kehrte mit einer Kühlbox zurück, die er Jun Do gab. »Der Tiger«, sagte er.
    Ein in eine schmutzige Plastiktüte gewickeltes, warmes Stück Fleisch lag darin, an dem Grashalme klebten.
    Jun Do sagte: »Ein bisschen Eis könnte vermutlich nicht schaden.«
    Dr. Song grinste. »Oh, ich kann mir die Gesichter der Amerikaner schon so richtig vorstellen.«
    »Tiger! Stell dir mal deren Reaktion vor.« Genosse Buc hielt sich den Bauch vor Lachen. »Ich würde ja zu gern noch nachnehmen”, sagte er auf Englisch, »aber ich habe heute Mittag schon zu viel Tiger gegessen.«
    »Das sieht ja köstlich aus«, fiel Dr. Song ein. »Zu schade, dass ich gerade auf strenger Leoparden-Diät bin.«
    Genosse Buc sagte: »Das wird wunderbar, wenn der Minister bei der Sache mitspielt.«
    »Der Herr Minister würde es gern selbst grillen, richtig?«, sagte Dr. Song. »Der Herr Minister besteht darauf, dass die Amerikaner es alle probieren, richtig?«
    Jun Do sah sich die Kühlbox an, auf der ein Rotes Kreuz prangte. So ein Kühlbehältnis hatte er schon mal gesehen – darin wurden auch die Blutkonserven nach Pjöngjang transportiert.
    »Zwei Dinge müsst ihr über die Amerikaner wissen«, sagte Dr. Song. »Erstens: Sie können schnell denken und lieben es, sich über alles den Kopf zu zerbrechen. Man muss ihnen irgendein Rätsel vorsetzen, damit sie beschäftigt sind. Dafür haben wir den Herrn Minister. Zweitens müssen sie sich moralisch überlegen fühlen. Sonst können sie keine Verhandlungen führen. Gespräche fangen immer mit Menschenrechten, mit Freiheit des Einzelnen und so weiter an. Der Tiger verändert alles. Die Vorstellung, dass wir ganz nonchalant ein Exemplar einer bedrohten Tierart aufessen, verschafft ihnen augenblicklich einen moralischen Vorsprung. Und dann können wir sofort zur Sache kommen.«
    Auf Englisch sagte Genosse Buc: »Bitte schön, Herr Senator, darf ich Ihnen den Fleischteller reichen?«
    »Genau, Herr Senator, Sie müssen unbedingt nachnehmen«, sagte Dr. Song.
    Sie lachten, bis sie Jun Dos Gesicht sahen. Dr. Song erklärte: »In der Kühlbox ist nur

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