Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Sportereignissen, dann vom Pfadfinderlager, Rattenschwänze, Kindergeburtstage, schließlich Babyfotos. Sah so Familie aus? Entwickelte sie sich so, sogradlinig und makellos wie die Zähne dieser Kinder? Man sah zwar mal einen Arm in einer Schlinge, und die Großeltern verschwanden irgendwann aus den Bildern. Die Anlässe und Hunde wechselten. Dies war eine Familie, von Anfang bis Ende, ohne Kriege oder Hungersnöte oder Arbeitslager, ohne einen Fremden, der in die Stadt kam und einem die Tochter am Pier ertränkte.
Draußen war es kühl, und in der trockenen Abendluft lag ein Geruch nach Kakteen und Viehtränken aus Aluminium. Die Sterne am Himmel zitterten in der Wärme des Tages, die der texanische Boden abstrahlte. Jun Do folgte dem mexikanischen Gesang und dem Surren eines Mixers zum Korral, wo die Männer weiße Hemden trugen und die Frauen in bunte Schals gehüllt waren. In der Mitte loderte ein Feuer aus aufgestellten Stämmen, das die glänzenden Gesichter erleuchtete. Eine beeindruckende Idee – so viel Holz zu verfeuern damit man nachts fröhlich beisammen sein konnte. Im flackernden Licht spielte der Senator auf der Geige und sang dazu »The Yellow Rose of Texas«.
Wanda kam an Jun Do vorbei, die Arme voller Limetten. Als er stehen blieb, blieb der Hund auch stehen; sein Fell glänzte orange und schwarz im Feuerschein. »Guter Hund«, sagte Jun Do und tätschelte ihm steif den Kopf, wie die Amerikaner es taten.
Mit einem Entsafter aus Holz presste Wanda Limetten aus, während Pilar Spirituosen in den Mixer kippte. Dann betätigte Wanda den Mixerknopf im Takt der Musik, und schließlich verteilte Pilar die Mixtur schwungvoll auf eine lange Reihe gelber Plastikbecher. Als Wanda Jun Do bemerkte, brachte sie ihm eine Margarita.
Er starrte das Salz am Becherrand an. »Was ist das?«, fragte er.
»Probieren Sie mal«, sagte sie. »Jetzt seien Sie nicht so. Soll ich Ihnen verraten, was Saddam Hussein im tiefsten Raum seines Bunkers hatte? Ich meine, noch unter seiner Kriegs- und Kommandozentrale aus Stahlbeton? Eine Xbox. Eine Spielkonsole, mit einem einzigen Controller.«
Er sah sie verständnislos an.
»Jeder braucht ein bisschen Spaß im Leben«, erklärte sie.
Jun Do trank einen Schluck – das Getränk schmeckte sauer und trocken, wie aller Durst der Welt.
»Ich habe übrigens nach Ihrem Freund geforscht«, sagte Wanda. »Die Japaner und Südkoreaner haben niemanden, auf den die Beschreibung passen würde. Sollte er über den Yalu nach China sein, erfährt man sowieso nichts. Vielleicht benutzt er ja auch nicht seinen echten Namen. Wer weiß, vielleicht taucht er ja noch auf. Manche Flüchtlinge verschlägt es auch nach Thailand.«
Jun Do faltete die ausgerissene Telefonbuchseite auseinander und reichte sie Wanda. »Könnten Sie diese Nachricht weiterleiten?«
» Alle wohlbehalten in Nordkorea «, las sie. »Was ist das?«
»Eine Liste japanischer Entführungsopfer.«
»Von den Entführungen wurde in den Nachrichten berichtet«, erwiderte Wanda. »Diese Liste hätte jeder zusammenstellen können. Sie beweist gar nichts.«
»Beweisen?«, sagte Jun Do. »Ich will nichts beweisen. Ich will Ihnen etwas mitteilen, was außer mir niemand kann: Keiner dieser Menschen ist gestorben, alle haben die Entführung überlebt, und sie sind wohlbehalten in Nordkorea. Nicht Bescheid zu wissen ist das Schlimmste. Diese Liste ist nicht für Sie gedacht – sie ist eine Botschaft von mir an die Angehörigen, für ihren inneren Frieden. Das ist alles, was ich ihnen geben kann.«
»Allen geht es gut«, sagte sie. »Nur die mit dem Sternchen ist nicht mehr am Leben?«
Jun Do zwang sich ihren Namen auszusprechen. »Mayumi.«
Wanda nippte an ihrem Cocktail und sah ihn von der Seite her an. »Sprechen Sie Japanisch?«
»Etwas«, sagte er. »Watashi no neko ga maigo ni narimashita.«
»Was soll das denn heißen?«
»Meine Katze ist weg.«
Wanda sah ihn verständnislos an, steckte aber das Blatt Papier in die Gesäßtasche.
*
Erst beim Abendessen sah Jun Do Dr. Song wieder. An der Art, wie dieser den Damen Margaritas einschenkte und beim Probieren der scharfen Salsa anerkennend nickte, versuchte Jun Do zu erraten, wie die Gespräche verlaufen waren. Sie saßen zu acht an einem runden Tisch; Pilar kam immer wieder herbei, um neue Gerichte aufzutragen und leere Teller mitzunehmen. Sie erklärte die Gerichte, die auf dem Drehaufsatz des Tisches standen: Flautas, Mole, Rellenos und Tacos zum selbst zusammenstellen
Weitere Kostenlose Bücher