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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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die Küchenschubladen, bis sie ein paar Arzneimittelproben fand. Sie steckte Jun Do zwei Blister mit Antibiotika in die Brusttasche. »Für später, falls Sie krank werden sollten. Nehmen Sie die, falls Sie Fieber bekommen. Kennen Sie den Unterschied zwischen einer bakteriellen und einer Virusinfektion?«
    Er nickte.
    »Das glaube ich kaum, dass er den kennt«, sagte Wanda zur Frau des Senators.
    Die Frau des Senators sagte: »Wenn Sie Fieber haben und grünen oder braunen Schleim husten, dann nehmen Sie hiervon drei pro Tag, bis alle aufgebraucht sind.« Sie drückte die erste Tablette aus der Packung und reichte sie ihm. »Vorsichtshalber fangen wir gleich mal mit einer Runde an.«
    Wanda schenkte ihm ein Glas Wasser ein, aber er steckte die Pille so in den Mund, zerkaute sie und sagte: »Nein danke, ich habe keinen Durst.«
    »Du meine Güte«, sagte die Frau des Senators.
    Pilar klappte die Kühlbox auf. »Puuh«, sagte sie und machte den Deckel schnell wieder zu. »Was soll ich damit machen? Heute Abend gibt es Texmex.«
    »Aber ehrlich«, schüttelte die Frau des Senators den Kopf. »Tiger.«
    »Warum eigentlich nicht?«, fragte Wanda. »Ich würde das ganz gern mal probieren.«
    »Hast du daran gerochen?«, fragte Pilar.
    »Wanda!«, sagte die Frau des Senators. »So etwas wie das, was da in der Kühlbox ist, isst man einfach nicht.«
    Jun Do sprang von der Anrichte und steckte sich mit einer Hand das Hemd in die Hose.
    »Wenn meine Frau jetzt hier wäre«, sagte er, »würde sie mir raten, es wegzuwerfen und durch ein Rindersteak zu ersetzen. Sie würde sagen, dass man sowieso keinen Unterschied schmecken kann, und dann essen alle davon und keiner verliert das Gesicht. Beim Essen würde ich darüber sprechen, wie hervorragend es schmeckt, das beste Fleisch, das ich je gegessen habe, und sie würde lächeln.«
    Pilar sah die Frau des Senators fragend an. »Tigertacos?«
    Die Frau des Senators ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Tigertacos.«
    *
    »Herr Pak Jun Do, Sie müssen sich jetzt hinlegen«, sagte die Frau des Senators. »Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer«, fügte sie ein wenig streng hinzu, als sei es irgendwie eine Grenzüberschreitung, dass sie mit ihm allein war. Im Haus gab es endlose Flure mit Familienfotos in Holz- und Metallrahmen an den Wänden. Die Tür zu dem Zimmer, in dem Jun Do schlafen sollte, stand halb offen, und als sie aufgestoßen wurde, sprang ein Hund vom Bett, was die Frau des Senators nicht zu stören schien. Auf dem Bett lag eine Patchworkdecke, die sie glattzog, sodass der Abdruck des Hundes nicht mehr zu sehen war.
    »Meine Großmutter war eine große Quiltnäherin«, sagte sie und blickte Jun Do in die Augen. »Ein Quilt ist eine Decke, die man aus Flicken seines Lebens näht. Das kostet nicht viel, und die Decke erzählt eine Geschichte.« Sie zeigte Jun Do, wie der Quilt auf dem Bett zu lesen war: »In Odessa gab es eine Mühle, die Bibelgeschichten auf ihre Mehlsäcke drucken ließ – Bildergeschichten, die angeordnet waren wie Kirchenfenster. So konnten die Leute die jeweilige Bibelgeschichte in den Bildern lesen. Dieses Stück Spitze hier stammt aus dem Haus, das meine Großmutter verließ, als sie mit fünfzehn verheiratet wurde. Hier ist der Auszug aus Ägypten zu sehen und hier Christus in der Wüste, beide stammen von Mehlsäcken. Der schwarze Samt stammt vom Rocksaum des Totenkleides ihrer Mutter. Sie starb kurz nach der Ankunft meiner Großmutter in Texas, und die Familie schickte ihr dieses schwarze Stück Stoff aus Europa. Damit beginnt eine traurige Phase ihres Lebens: Ein Stück einer Babydecke von einem Kind, das sie verlor, ein Stück der Robe für eine Abschlussfeier an der Uni, die sie nie tragen sollte, der zerschlissene Stoff von der Armeeuniform ihres Mannes. Aber schauen Sie hier: Diese bunten Farben und Stoffe zeugen von einer Hochzeit, von Kindern und Wohlstand. Auf dem letzten Bild ist natürlich der Garten Eden zu sehen. Wie viele Verluste und schwere Zeiten musste meine Großmutter durchmachen, bevor sie ihre Geschichte abschließen konnte. Davon hätte ich Ihrer Frau Sun Moon erzählt, wenn ich mit ihr gesprochen hätte.«
    Auf dem Tischchen neben dem Bett lag eine Bibel, die sie in die Hand nahm. »Wanda hat völlig recht – Sie sind kein Mistkerl und auch kein schlechter Ehemann«, sagte die Frau des Senators. »Ich weiß genau, dass Ihre Frau Ihnen etwas bedeutet. Ich bin nur jemand am anderen Ende der Welt, eine Frau, die sie nicht

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