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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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kennt. Aber würden Sie ihr bitte das hier von mir geben? Die Worte der Bibel spenden mir immer Trost. Auch wenn andere Türen für sie verschlossen sein mögen – die Heilige Schrift wird immer für sie da sein.«
    Jun Do nahm das Buch in die Hand und befühlte den weichen Einband.
    »Wir könnten gemeinsam darin lesen«, sagte sie. »Kennen Sie Christus?«
    Jun Do nickte. »Ja, wir haben eine Einweisung zu dem Thema erhalten.«
    Schmerz trat in ihre Augenwinkel, doch dann nickte sie.
    Er gab ihr die Bibel zurück. »Es tut mir leid. Wo ich herkomme, ist dieses Buch verboten. Es zu besitzen wird mit einer hohen Strafe belegt«, sagte er.
    »Sie können sich nicht vorstellen, wie weh es mir tut, das zu hören«, erwiderte sie und ging dann zur Tür, wo ein weißes Leinenhemd aus Mexiko hing. »Duschen Sie den Arm heiß ab, ja? Und ziehen Sie heute Abend das Hemd hier an.«
    Als sie ging, sprang der Hund wieder aufs Bett.
    Jun Do zog sein Hemd aus und sah sich in dem Gästezimmer um. Es war mit Andenken des Senators gefüllt: Fotos von ihm zusammen mit stolz dreinblickenden Menschen, Auszeichnungen in Gold und Bronze. Auf einem kleinen Sekretärin der Ecke stand ein Telefon neben einem weißen Buch. Jun Do hob den Telefonhörer und lauschte dem gleichmäßigen Ton. Er nahm das große Buch zur Hand und blätterte darin. Es enthielt Tausende von Namen. Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass jeder Mensch in ganz Zentraltexas darin aufgeführt war, mit vollem Namen und Anschrift. Er konnte nicht glauben, dass man einfach in einem Buch nachschlagen und jemanden finden konnte. Wenn man beweisen wollte, dass man kein Waisenkind war, brauchte man nur so ein Buch aufzuschlagen und auf seine Eltern zu zeigen. Es war unbegreiflich, dass es in Amerika eine dauerhafte Verbindung zu Müttern und Vätern und abhandengekommenen Freunden gab, dass sie für immer auf gedruckten Seiten fixiert waren. Er blätterte im Telefonbuch: Donaldson, Jimenez, Smith – man brauchte nichts weiter als ein Buch. Ein Buch konnte einem ein ganzes Leben voller Unsicherheit und Kopfzerbrechen ersparen. Auf einmal überkam ihn Hass auf sein kleines, rückständiges Heimatland mit seinen Geheimnissen und Geistern, seinen vermissten Personen und seinen Menschen ohne Identität. Er riss eine Seite hinten aus dem Telefonbuch und schrieb darauf: Alle wohlbehalten in Nordkorea . Darunter schrieb er die Namen aller Menschen, bei deren Entführung er mitgewirkt hatte. Neben Mayumi Nota, das Mädchen vom Pier, machte er ein Sternchen, die Ausnahme.
    Im Bad stand ein Körbchen mit Einwegrasierern, winzigen Zahnpastatuben und einzeln verpackten Seifenstückchen. Er rührte sie nicht an, sondern starrte sich selbst im Spiegel ins Gesicht und sah sich so, wie die Frau des Senators ihn gesehen hatte. Er berührte die Bissstellen, das gebrochene Schlüsselbein, die Brandnarben, die elfte Rippe. Dann berührte er das Gesicht von Sun Moon, der schönen Frau inmitten dieses Heiligenscheins aus Wunden.
    Er trat vor die Toilettenschüssel und starrte hinein. Einen Augenblick später kam das Fleisch schon, in drei großen Schüben, und dann war sein Magen leer. Seine Haut spannte, und er fühlte sich schwach auf den Beinen.
    In der Dusche drehte er das warme Wasser. Er badete seine Wunden in dem heißen Strahl, der wie Feuer auf seinem Arm brannte. Als er die Augen schloss, war es, als würde er wieder von der Frau des Zweiten Maats gepflegt, wie ganz am Anfang, als seine Augen zugeschwollen waren und er sie nur hörte und roch, als sie nichts als weiblicher Duft war, er fieberte und nicht wusste, wo er war, und sich das Gesicht der Frau, die ihn retten würde, nur vorstellen konnte.
    *
    Nach Sonnenuntergang zog Jun Do das weiße Hemd mit dem steifen Kragen und der südamerikanischen Stickerei an. Durchs Fenster sah er Dr. Song und den Minister aus einem glänzenden, schwarzen Wohnmobil steigen, wo sie den ganzen Nachmittag Gespräche mit dem Senator geführt hatten. Der Hund erhob sich und legte seine Schnauze auf die Bettkante. Um den Hals hatte er ein Lederband; irgendwie traurig, so ein Hund ohne sein Rudel und Gehege. Irgendwo fing eine Band an zu spielen, jemand sang, es klang wie Spanisch. Als Jun Do hinaus in die Dunkelheit ging, folgte ihm der Hund.
    Auf dem Flur hingen weitere Familienfotos des Senators, und immer wurde gelächelt. Der Weg zur Küche war wie ein Weg in die Vergangenheit, aus den Fotografien von Abschlussfeiern wurden Fotos von

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