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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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schnell ein Foto von seiner Brust, dann von seinem verletzten Arm, und schließlich hielt sie ihm den Apparat vors Gesicht und blitzte ihm in die Augen.
    Pilar fragte: »Ist Ihre Frau auch Dolmetscherin?«
    »Meine Frau ist Schauspielerin«, sagte er.
    »Wie heißt sie?«, wollte Wanda wissen.
    »Wie sie heißt?«, fragte Jun Do. »Sie heißt Sun Moon.«
    Der Name war schön, merkte er, und es fühlte sich gut an, ihn laut auszusprechen – den Namen seiner Frau, vor diesen drei Frauen. Sun Moon .
    »Was ist das denn für ein Zeug?«, fragte die Frau des Senators. Sie hielt ein Stück Faden hoch, das sie gerade gezogen hatte: Es war abwechselnd durchsichtig, gelb und rostbraun.
    »Angelschnur«, sagte er.
    »Na, wenn Sie sich damit Tetanus geholt hätten, wüssten wir das mittlerweile«, sagte sie. »Im Studium haben wir gelernt, dass wir niemals Monofil zum Vernähen von Wunden benutzen sollen, aber ich weiß beim besten Willen nicht mehr, warum.«
    »Was bringen Sie ihr denn mit?«, fragte Wanda. »Als Souvenir von Ihrer Reise nach Texas?«
    Jun Do schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Was würden Sie vorschlagen?«
    Geistesabwesend fragte die Frau des Senators: »Was ist sie denn für ein Mensch?«
    »Sie mag traditionelle Kleider. Ihr gelbes Kleid finde ich am schönsten. Sie trägt die Haare zusammengebunden, damit man ihre goldenen Ohrringe sehen kann. Sie singt gern Karaoke. Und sie geht gern ins Kino.«
    »Nein, wir meinen, was für ein Mensch sie ist?«
    Jun Do musste nachdenken. »Sie braucht viel Aufmerksamkeit«, sagte er zögernd. Er wusste nicht, wie er weitermachen sollte. »Sie kann ihre Liebe nicht gut offen zeigen. Ihr Vater befürchtete, dass sie von den Männern ausgenutzt würde, weil sie so schön ist, und dass die Falschen auf sie aufmerksam würden. Und damit die Männer aus Pjöngjang sie nicht finden, hat er ihr, als sie sechzehn war, eine Arbeit in einer Fischfabrik besorgt. Diese Arbeit gefiel ihr gar nicht, und sie eiferte noch stärker ihren wahren Zielen nach. Trotzdem hat sie irgendwann einen sehr herrischen Mann geheiratet. Angeblich kann er ein ausgemachter Mistkerl sein. Und ihre Rollen als Schauspielerin kann sie sich nicht aussuchen, alles wird vom Staat bestimmt. Sie muss die Lieder singen, die ihr vorgeschrieben werden, außer beim Karaoke. Deshalb wundert es einen auch nicht, dass Sun Moon trotz ihres Erfolgs, ihrer Berühmtheit und Schönheit, trotz ihrer Kinder im Grunde sehr traurig ist. Sie ist schrecklich allein. Den ganzen Tag lang spielt sie auf ihrer Gayageum und entlockt ihr einsame, verlorene Töne.«
    Eine Pause entstand. Jun Do merkte, dass alle drei Frauen ihn anstarrten.
    »Aber Sie sind doch kein ausgemachter Mistkerl«, sagte Wanda. »Die erkenne ich sofort.«
    Die Frau des Senators hörte auf mit dem Fädenziehen und sah Jun Do mit forschendem Blick in die Augen. Sie betrachtete die Tätowierung auf seiner Brust und fragte: »Wäre es möglich, dass ich mit ihr spreche? Ich habe das Gefühl, dass ich ihr helfen könnte, wenn ich mit ihr reden würde.« Auf der Arbeitsplatte stand ein Telefon; eine geringelte Schnur verband den Hörer mit dem Apparat. »Können Sie Ihre Frau für mich ans Telefon holen?«, fragte sie.
    »Telefone gibt es nicht viele«, sagte Jun Do.
    Pilar klappte ihr Handy auf. »Ich habe Freiminuten fürs Ausland«, bot sie an.
    Wanda erwiderte: »Ich glaube, so läuft das in Nordkorea nicht.«
    Die Frau des Senators nickte und zog die restlichen Fäden schweigend. Als sie fertig war, desinfizierte sie die Bisswunden noch einmal und streifte dann die Handschuhe ab.
    Jun Do zog das Oberhemd des Fahrers wieder an, das er seit zwei Tagen trug. Sein Arm fühlte sich so geschwollen und empfindlich an wie an dem Tag, als er gebissen worden war. Die Krawatte hielt er in der Hand, während die Frau des Senators ihm half – ruhig und sicher schoben ihre Finger die Knöpfe durch die Knopflöcher.
    »War der Senator mal Astronaut?«, fragte Jun Do sie.
    »Er hat die Ausbildung durchlaufen«, antwortete sie. »Aber er wurde nie eingesetzt.«
    »Kennen Sie den Satelliten?«, fragte Jun Do. »Der, mit dem Menschen aus zig Ländern um die Erde kreisen?«
    »Die internationale Raumstation?«, fragte Wanda zurück.
    »Das muss sie sein«, sagte Jun Do. »Ich habe eine Frage: Dient sie dem Frieden und der Verbrüderung?«
    Die Frauen sahen einander an. »Ja, das könnte man wahrscheinlich so sagen«, antwortete die Frau des Senators.
    Sie durchwühlte

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