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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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gekommen, mein Junge?«
    »Die Soldaten sind zurückgekehrt«, antwortete Jun Do.
    »Warum sollten sie zurückkehren?«, entgegnete Tommy. »Sie hatten das Schiff doch schon durchsucht und gesichert.«
    »Und was hatten Sie überhaupt auf einem Fischerboot zu schaffen?«, wollte der Senator wissen.
    »Ganz offensichtlich fühlten sich die Amerikaner in ihrer Ehre verletzt«, sagte Dr. Song mit einigem Nachdruck, »weil ein einzelner, mit nichts als einem Messer bewaffneter Nordkoreaner eine ganze amerikanische Kampfeinheit wie Feiglinge dastehen ließ.«
    Jun Do trank einen Schluck Wasser. »Ich weiß nur, dass es ganz früh morgens war, an Steuerbord ging die Sonne auf. Die Amerikaner kamen direkt aus dem Licht, und mit einem Mal wurden wir geentert. Der Zweite Maat, der Steuermann und der Kapitän waren an Deck. Es war Waschtag und sie brachten gerade Seewasser zum Kochen. Es gab Geschrei. Der Maschinist, der Erste Maat und ich rannten nach oben. Der Marinesoldat von vorher, Lieutenant Jervis hieß er, hielt denZweiten Maat über die Reling. Sie brüllten ihn an wegen dem Messer.«
    »Eine Sekunde«, unterbrach der Senator. »Woher kennen Sie den Namen des Soldaten?«
    »Weil er mir seine Karte gegeben hat«, antwortete Jun Do. »Er wollte, dass wir ganz genau wissen, wer da zurückgekommen ist, um Rache zu nehmen.« Jun Do gab die Visitenkarte an Wanda weiter, die den Namen laut vorlas: »Lieutenant Harlan Jervis.«
    Tommy streckte den Arm nach der Karte aus. »Die Fortitude , fünfte Kriegsflotte«, sagte er zum Senator. »Das muss eins von Woody McParklands Schiffen sein.«
    Der Senator sagte: »Woody würde nie ein schwarzes Schaf in seiner Truppe dulden.«
    Die Frau des Senators hob die Hand. »Und was geschah dann?«
    Jun Do sagte: »Dann wurde mein Freund den Haien zum Fraß vorgeworfen, und ich sprang hinterher, um ihn zu retten.«
    Tommy fragte: »Und wo kamen die ganzen Haie auf einmal her?«
    »Die Junma ist ein Fischerboot«, erläuterte Jun Do. »Das wird immer von Haien verfolgt.«
    »Da kochte das Wasser also vor Haien?«, hakte Tommy nach.
    »Hat der Junge überhaupt etwas davon mitbekommen?«, wollte der Senator wissen.
    Und Tommy fragte: »Hat Lieutenant Jervis etwas gesagt?«
    »Na ja, anfangs waren es noch nicht so viele Haie«, meinte Jun Do.
    Der Senator wollte wissen: »Hat dieser Jervis den Jungen eigenhändig ins Wasser geworfen?«
    »Oder hat er einem Untergebenen befohlen, das zu tun?«, wollte Tommy wissen.
    Der Minister legte beide Handflächen auf den Tisch. »Story« , verkündete er auf Englisch. »Wahr.«
    »Nein!«, erklärte die Frau des Senators.
    Jun Do sah in die hellen, umwölkten Augen der alten Dame.
    »Nein«, wiederholte sie. »Mir ist klar, dass in Kriegszeiten keine Seite ein Monopol auf unaussprechliche Taten hat. Und ich bin nicht so naiv zu glauben, etwas anderes als Unrecht würde die Motoren der Gerechten antreiben. Doch diese Marinesoldaten sind unsere besten Männer, unter der besten Führung, und sie fahren unter der Flagge unseres Landes. Und deswegen: Nein, ich muss Ihnen widersprechen. Sie irren sich. Kein amerikanischer Soldat hat je eine solche Tat verübt. Das weiß ich, ganz genau sogar.«
    Sie erhob sich vom Tisch.
    Jun Do erhob sich ebenfalls.
    »Es tut mir leid, dass ich Sie aus der Fassung gebracht habe«, sagte er. »Ich hätte nicht davon sprechen sollen. Doch eines müssen Sie mir glauben: Ich habe blutrünstigen Haien ins Auge geblickt. Wenn man in ihre Nähe kommt und nur noch eine Armlänge von ihnen entfernt ist, dann werden ihre Augen weiß. Sie legen sich auf die Seite und heben den Kopf, damit sie einen besser sehen können, bevor sie zubeißen. Als die Zähne durch mein Fleisch gingen, habe ich nichts gespürt, aber als sie auf den Knochen trafen, durchfuhr es mich eiskalt, wie ein Stromschlag. Man roch das Blut im Wasser. Ich weiß, wie es ist, wenn man einen Kameraden vor sich hat, der gleich nicht mehr da sein wird. Mit einem Schlag wird einem klar, dass man ihn nie wiedersehen wird. Ich habe die letzten gestammelten Worte eines Menschen gehört. Wenn jemanddirekt vor einem im Wasser versinkt und man es einfach nicht fassen kann – so etwas vergisst man nie. Und das, was die Leute zurücklassen, einen Rasierpinsel, ein Paar Schuhe, wie lächerlich das hinterher wirkt: Man kann es mit Händen fassen, aber ohne den Menschen hat es jede Bedeutung verloren.« Jun Do bebte mittlerweile. »Ich habe die Witwe, seine Witwe , in diesen, meinen

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