Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Armen gehalten, und sie hat ihm Schlaflieder gesungen, als wäre er noch da.«
*
Als Jun Do später in seinem Zimmer war, schlug er die vielen koreanischen Namen in Texas nach, die Hunderte Kims und Lees, und er war schon fast bei den Paks und Parks angelangt, als der Hund auf seinem Bett plötzlich aufsprang.
An der Tür war Wanda – sie klopfte zwei Mal und machte dann auf.
»Ich fahre einen Volvo«, sagte sie von der Tür her. »Den habe ich von meinem Dad übernommen. Als ich klein war, arbeitete er im Betriebsschutz am Hafen. Im Auto hatte er immer einen Funkscanner laufen, damit er Bescheid wusste, sobald ein Kapitän in Seenot geriet. Ich habe auch einen, den lasse ich laufen, wenn ich nicht schlafen kann.«
Jun Do sah sie nur reglos an. Der Hund legte sich wieder auf dem Bett zur Ruhe.
»Ich habe ein paar Dinge über Sie herausgefunden. Wer Sie wirklich sind, zum Beispiel.« Wanda zuckte die Achseln. »Deswegen dachte ich, es wäre nur fair, wenn ich auch etwas über mich erzähle.«
»Ich weiß nicht, was in Ihrer Akte über mich steht, jedenfalls stimmt es nicht«, sagte Jun Do. »Ich mache das nicht mehr.« Er fragte sich sowieso, wie sie eine Akte über ihn haben konnten, wenn nicht mal Pjöngjang es schaffte, seine Personalien richtig zu verwalten.
»Ich habe einfach Ihre Frau Sun Moon in den Computer eingegeben, und da sind Sie sofort aufgetaucht, Kommandant Ga.« Sie wartete auf seine Reaktion; als keine kam, sagte sie: »Minister für Gefängnisbergwerke, Gewinner des Goldgurts im Taekwondo, Sieger über Kimura in Japan, Vater zweier Kinder, Träger des Purpurroten Sterns für ungenannte Heldentaten und so weiter und so fort. Aktuelle Fotos waren nicht dabei; ich hoffe also, es stört Sie nicht, wenn ich die Fotos hochlade, die ich von Ihnen gemacht habe.«
Jun Do klappte das Telefonbuch zu.
»Sie irren sich«, sagte er. »Und nennen Sie mich niemals vor den anderen so.«
»Kommandant Ga«, wiederholte Wanda, als koste sie den Namen so richtig aus. Sie hielt ihr Smartphone hoch. »Ich habe eine App, die die Flugbahn der internationalen Raumstation anzeigt. In acht Minuten überfliegt sie Texas.«
Er folgte ihr nach draußen an den Rand der Wüste. Die Milchstraße spannte sich über den ganzen Himmel, und aus den Bergen trug der Wind den Harzgeruch der Kreosotbüsche und den Geschmack von Granitstaub herbei. Als ein Kojote heulte, zuckte zwischen ihnen aufgeregt der Schwanz des Hundes. Alle drei warteten auf die Antwort eines zweiten Kojoten.
»Tommy«, sagte Jun Do. »Er spricht Koreanisch, richtig?«
»Ja«, antwortete Wanda. »Er war dort zehn Jahre lang stationiert, bei der Marine.«
Sie schirmten die Augen seitlich ab und hielten nach der Flugbahn der Raumstation Ausschau.
»Ich verstehe das Ganze nicht«, sagte Wanda. »Was will der Minister für Gefängnisbergwerke bei uns in Texas? Und wer ist der andere, der angeblich Minister ist?«
»Der ist harmlos. Er tut nur, was ihm befohlen wird. Sie müssen das verstehen – wenn dort, wo er herkommt, jemand sagt: ›Du bist Waise‹, dann bist du Waise. Wenn jemand sagt, kriech in ein Loch, dann bist du ab sofort einer, der in Löcher kriecht. Wenn jemand sagt, tu anderen weh – dann geht es los.«
»Tu anderen weh?«
»Ich will damit nur sagen, wenn einer den Auftrag bekommt, nach Texas zu gehen und eine Geschichte zum Besten zu geben, dann ist er von da an nur noch diese Geschichte und nichts anderes mehr.«
»Das glaube ich Ihnen gern«, erwiderte sie, »und ich versuche, es zu verstehen.«
Wanda entdeckte die internationale Raumstation als Erste; hell wie ein Diamant raste sie über den Himmel. Jun Do folgte dem Trabanten mit den Augen, genauso verblüfft wie beim ersten Mal, als der Kapitän ihn mitten auf dem Meer darauf hingewiesen hatte.
»Sie denken nicht zufällig ans Überlaufen, oder?«, fragte sie. »Sollten Sie das vorhaben, brächte das eine Unmenge Probleme mit sich, das können Sie mir glauben. Aber trotzdem – möglich wäre es schon. Ich sage nicht, dass es unmöglich wäre.«
»Dr. Song und der Minister – Sie wissen, was aus ihnen würde«, erwiderte Jun Do. »Das kann ich ihnen nicht antun.«
»Natürlich nicht«, antwortete sie.
In weiter Ferne – zu weit, um die Entfernung abschätzen zu können – zuckte Wetterleuchten am Horizont. Dennoch waren die Blitze hell genug, dass sich die Silhouetten von Bergketten vor dem Himmel abzeichneten und noch weiter entfernte Höhenzüge zu ahnen waren. Das
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