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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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Display konnte er mit Mühe ihren Umriss sehen. Dann blitzte es.
    Wanda griff in die Tasche und holte ein knallrotes Handy heraus. Als sie es hochhielt, war das Foto, das er gerade von ihr aufgenommen hatte, auf dem Handydisplay zu sehen. »Die Dinger sind für den Irakkrieg entwickelt worden«, sagte sie. »Die händige ich der Bevölkerung dort aus, freundlich gesonnenen Menschen. Damit können sie ein Foto machen, wenn sie glauben, dass ich etwas sehen sollte. Das Foto wird über einen Satelliten ausschließlich an mich geschickt. Die Kamera hat keinen Speicher, es ist also kein einziges Foto darauf. Niemand kann jemals herausfinden, was Sie fotografiert haben oder wohin das Bild geschickt worden ist.«
    »Was soll ich denn fotografieren?«
    »Nichts«, antwortete sie. »Was Sie wollen. Das entscheiden Sie allein. Wenn es jemals etwas geben sollte, was Sie mir zeigen wollen, etwas, das mir helfen würde, Ihr Land zu verstehen, dann drücken Sie auf diesen Knopf.«
    Er sah sich um, als überlege er, was es in dieser dunklen Umgebung zu fotografieren gab.
    »Nur keine Bange«, sagte sie und stellte sich ganz dicht neben ihn. »Strecken Sie den Arm aus, machen Sie ein Foto von uns beiden!«
    Er spürte ihre Schulter an seiner, ihren Arm um seinen Rücken.
    Er knipste und betrachtete das Bild dann auf dem Handydisplay.
    »Sollte ich da lächeln?«, fragte er, als er es ihr zurückgab.
    Sie sah sich das Foto an. »Ein Herz und eine Seele«, sagte sie und lachte. »Ja klar, seien Sie nicht so ernst. Ein bisschen lächeln kann doch nicht schaden.«
    »›Ein Herz und eine Seele‹«, sagte er. »Diesen Ausdruck kenne ich nicht.«
    »Vertraut eben, nah«, sagte sie. »Wenn zwei Leute sich füreinander öffnen, alles miteinander teilen und keine Geheimnisse voreinander haben.«
    Er betrachtete das Bild. »Vertraut.«
    *
    In dieser Nacht hörte Jun Do im Schlaf den Waisenjungen Bo Song. Weil er gehörlos war, redete Bo Song besonders laut, wenn er etwas zu sagen versuchte; im Schlaf war es noch schlimmer, und er brüllte die halbe Nacht lang sein taubes Gebrabbel. Jun Do verlegte ihn auf eine Pritsche in den Flur,wo die meisten Jungen vor Kälte wie gelähmt waren – erst klapperten sie noch ein wenig mit den Zähnen, dann war Ruhe. Nicht so bei Bo Song – er stammelte im Schlaf nur noch lauter. Und in dieser Nacht hörte Jun Do ihn, wie er wimmerte und greinte, und in seinem Traum begann Jun Do auf einmal, den tauben Jungen zu verstehen. Aus den ungeformten Lauten wurden Worte, und auch wenn Jun Do noch keine Sätze ausmachen konnte, wusste er doch, dass Bo Song versuchte, ihm die Wahrheit über etwas mitzuteilen. Es war eine große, schreckliche Wahrheit, und gerade als die Worte des Waisenjungen anfingen, einen Sinn zu ergeben, gerade, als der Taube sich endlich verständlich machen konnte, wachte Jun Do auf.
    Als er die Augen aufschlug, hatte er die Hundeschnauze vor sich; der Hund war hochgerutscht und lag jetzt mit auf dem Kissen. Die Hundeaugen hinter den Lidern rollten und zuckten, und der Hund jaulte in seinem Hundetraum. Jun Do streckte die Hand aus und streichelte ihm beruhigend übers Fell, bis das Jaulen und Wimmern aufhörte.
    Jun Do zog sich die Hose und sein neues weißes Leinenhemd über. Barfuß tappte er zum Zimmer von Dr. Song; abgesehen von einem fertig gepackten kleinen Koffer am Fußende des Bettes war es leer.
    Auch die Küche und das Esszimmer waren leer.
    Jun Do fand ihn draußen im Pferch; er saß an einem Picknicktisch. Ein Nachtwind wehte. Wolken jagten über den spät aufgegangenen Mond. Dr. Song trug wieder Anzug und Krawatte.
    »Die Frau vom CIA war bei mir«, sagte Jun Do.
    Dr. Song gab keine Antwort. Er starrte auf die Feuerstelle, wo die Glut immer noch Hitze abstrahlte; wenn der Wind ein wenig von der Asche davonblies, glommen die Kohlen hellrot auf.
    »Wissen Sie, was sie mich gefragt hat?«, sagte Jun Do. »Sie wollte wissen, ob ich mich frei fühle.«
    Auf dem Tisch lag Dr. Songs Cowboyhut, den er mit einer Hand festhielt, damit er nicht davonwehte.
    »Und was hast du unserem feurigen Cowgirl erzählt?«, wollte er wissen.
    »Die Wahrheit«, sagte Jun Do.
    Dr. Song nickte.
    Sein Gesicht sah alt aus, seine Augen waren vor lauter Müdigkeit fast zugeschwollen.
    »Und war es ein Erfolg?«, fragte Jun Do. »Haben Sie erreicht, was Sie wollten?«
    »Habe ich erreicht, was ich erreichen wollte?«, fragte Dr. Song sich selbst. »Ich habe ein Auto und einen Fahrer und eine Wohnung auf dem

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