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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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Stroboskopzucken eines Blitzschlags zeigte eine düstere Eule mitten im Flug, die lautlos zwischen den hohen Nadelbäumen jagte.
    Wanda drehte sich zu ihm um. »Fühlen Sie sich frei?«, fragte sie. Sie sah ihn nachdenklich an. »Wissen Sie, was Freiheit ist?«
    Wie sollte er ihr bloß sein Land erklären? Wie sollte er erklären, dass es Freiheit war, dessen Enge hinter sich zu lassen und hinaus aufs Ostmeer zu fahren. Oder wenn er sich als Junge eine Stunde lang von den Hochöfen davongestohlen hatte und mit den anderen Kindern in den Schlackehaufen herumgeklettert war, obwohl überall Wachen standen, ja gerade weil überall Wachen standen – das war Freiheit in ihrer reinsten Form. Wie sollte man jemandem erklären, dass das Reiswasser, das man aus dem Angebrannten unten im Topf herstellte, besser schmeckte als jede texanische Limonade?
    »Gibt es hier Straflager?«, fragte er.
    »Nein«, sagte sie.
    »Zwangsehen, Selbstkritiksitzungen, Lautsprecher?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Dann glaube ich nicht, dass ich mich hier jemals frei fühlen könnte«, sagte er.
    »Was soll das heißen?« Wanda schien fast wütend auf ihn zu sein. »Das erklärt mir überhaupt nichts.«
    »In meinem Land ergibt alles einen klaren, eindeutigen Sinn. Es ist der unkomplizierteste Ort der Welt«, sagte er.
    Sie blickte hinaus in die Wüste.
    Jun Do sagte: »Ihr Vater war eine Tunnelratte, richtig?«
    »Mein Onkel«, erwiderte sie.
    »Na gut, Ihr Onkel. Die meisten Menschen denken doch gar nicht darüber nach, dass sie am Leben sind. Aber ich könnte wetten, dass Ihr Onkel an nichts anderes gedacht hat, wenn er runter in einen feindlichen Tunnel musste. Und wenn er es wieder herausgeschafft hatte, dann fühlte er sich wahrscheinlich lebendiger, als wir uns jemals fühlen werden.Als ob ihm nichts etwas anhaben könnte, als sei er unbesiegbar – bis zum nächsten Tunnel. Fragen Sie ihn doch, wo er sich lebendiger gefühlt hat – hier oder dort.«
    »Ich weiß, was Sie sagen wollen«, entgegnete Wanda. »Als ich klein war, erzählte er immer herrliche Gruselgeschichten über die Tunnel, als sei alles ein Klacks gewesen. Aber wenn er jetzt bei meinem Vater zu Besuch ist und man sich mitten in der Nacht ein Glas Wasser holen geht, dann steht er hellwach mitten in der Küche. Das hat doch nichts mit unbesiegbar zu tun. Da wünscht er sich doch nicht, er wäre wieder in Vietnam, weil er sich da so lebendig gefühlt hat. Da wünscht er sich, er hätte dieses schreckliche Land niemals gesehen. Und, was ist jetzt mit Ihrer schönen Metapher von der Freiheit?«
    Jun Do sah sie an, und in seinem Blick lag trauriges Verstehen. »Ich weiß, von welchem Traum Ihr Onkel aufgewacht ist. Weswegen er dann hellwach in der Küche steht.«
    »Glauben Sie’s mir, Sie kennen meinen Onkel nicht«, sagte sie.
    Jun Do nickte. »Schon gut.«
    Fast zornig sah Wanda ihn an.
    »Also«, sagte sie. »Erzählen Sie’s schon.«
    »Ich will ja nur erklären, was er hat.«
    »Nur zu«, sagte sie.
    »Wenn ein Tunnel einbricht ...«, sagte Jun Do.
    »Im Gefängnisbergwerk?«
    »Genau«, sagte er. »Wenn ein Tunnel in einem Bergwerk einbricht, dann müssen wir hingehen und die Männer freischaufeln. Ihre Augäpfel sind flach gedrückt und zermatscht. Und die Münder – die Münder sind immer weit offen und voller Erde. Das ist der Anblick, den man nicht ertragen kann, eine mit Erde gestopfte Kehle, eine braune, dreckverkrustete Zunge. Es ist unsere größte Angst, so zu enden: Die anderenstehen im Kreis um dich herum und starren auf die Panik deines letzten Augenblicks herunter. Wenn Sie also Ihren Onkel spät in der Nacht an der Spüle stehen sehen, dann hat er geträumt, dass er Erde eingeatmet hat. In dem Traum ist alles stockdunkel. Man hält die Luft an und hält die Luft an, und wenn man sie schließlich nicht mehr anhalten kann, wenn man als Nächstes Erde einatmen müsste – dann wacht man auf und ringt nach Luft. Ich muss mir nach dem Traum immer das Gesicht waschen. Eine Weile liege ich nur da und atme, aber es ist ein Gefühl, als würde ich nie wieder genug Luft bekommen.«
    Wanda musterte ihn einen Augenblick lang.
    Sie sagte: »Ich will Ihnen etwas schenken.«
    Sie gab ihm einen Fotoapparat, der so klein war, dass er ihn in der Hand verstecken konnte. So einen hatte er schon einmal in Japan gesehen.
    »Fotografieren Sie mich«, sagte sie. »Einfach nur hochhalten und auf den Knopf drücken.«
    Er hielt im Dunkeln die Kamera vor Wanda. Auf dem kleinen

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