Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Moranbong-Hügel. Meine Frau – als ich sie noch hatte – war die Fürsorge in Person. Ich habe die weißen Nächte in Leningrad erlebt und die Verbotene Stadt besichtigt. Ich habe an der Kim-Il-Sung-Universität Vorträge gehalten. Ich bin mit dem Geliebten Führer auf Jetskis über einen kalten Bergsee gerast und habe erlebt, wie zehntausend Frauen beim Arirang-Festival gleichzeitig einen Purzelbaum machten. Und jetzt habe ich texanisches Barbecue probiert.«
Jedes Mal, wenn er jemanden so reden hörte, lief es Jun Do eiskalt den Rücken herunter.
»Möchten Sie mir etwas sagen, Dr. Song?«, fragte er.
Dr. Song befühlte die Krempe seines Huts. »Alle habe ich überlebt«, sagte er. »Meine Kollegen und Freunde sind alle in Bauernkollektiven und Arbeitslagern gelandet, und manche sind schlichtweg verschwunden. Was haben wir nicht alles für Schwierigkeiten und Probleme gehabt. Wie oft haben wir in der Patsche gesessen. Aber hier bin ich – noch bin ich da, der alte Dr. Song.« Er gab Jun Do einen väterlichen Klaps aufs Bein. »Nicht schlecht für einen Kriegswaisen, oder?«
Jun Do hatte das Gefühl, als träume er immer noch, dass ihm jemand etwas Wichtiges in einer Sprache mitteilte, die er nur halb verstand. Er sah, dass der Hund ihm nach draußen gefolgt war und ihn jetzt aus gebührender Entfernung beobachtete, und mit jedem Windstoß schien sich die Zeichnung seines Fells zu verändern.
»Die Sonne steht hoch über Pjöngjang«, sagte Dr. Song. »Aber wir müssen trotzdem versuchen, eine Mütze voll Schlaf zu bekommen.« Er erhob sich und setzte den Cowboyhut auf. Während er steifbeinig davonging, sagte er: »In den Western-Filmen sagen sie: › Time to get some shut-eye ‹.«
*
Am Morgen gab es keine großen Abschiedsreden. Pilar füllte einen Korb mit Muffins und Obst für den Flug, und alle versammelten sich vor dem Haus, wo der Senator und Tommy mit dem Thunderbird und dem Mustang vorgefahren waren. Dr. Song übersetzte die Abschiedswünsche des Ministers – die Einladung, sie sollten ihn alle recht bald in Pjöngjang besuchen kommen, besonders Pilar, die dann allerdings das Arbeiterparadies sicherlich nicht mehr würde verlassen wollen.
Dr. Song verbeugte sich nur vor allen.
Jun Do ging auf Wanda zu, die ein Tanktop trug, so dass ihre kräftige Brust und durchtrainierten Schultern zu sehen waren. Die Haare fielen ihr zum ersten Mal offen ums Gesicht.
» Happy trails «, sagte er zu ihr. »So verabschiedet man sich doch in Texas, oder?«
»Ja«, sagte sie lächelnd. »Kennen Sie auch die Antwort? ›Until we meet again‹. «
Die Frau des Senators hielt einen Welpen auf dem Arm und kraulte seinen weichen Flaum.
Sie musterte Jun Do.
Er sagte: »Danke, dass Sie meine Wunden versorgt haben.«
»Ich habe einen Eid abgelegt, allen Kranken beizustehen«, erwiderte sie.
»Ich weiß, dass Sie meine Geschichte nicht glauben«, sagte er.
»Ich glaube, dass Sie aus einem Land des Leidens kommen«, antwortete sie. Ihre Stimme war ruhig und getragen – genauso hatte sie geklungen, als sie über die Bibel gesprochen hatte. »Und ich glaube, dass Ihre Frau ein guter Mensch ist, dass sie aber eine Freundin bräuchte. Ich wäre ihr gerne diese Freundin, aber alle sagen, dass ich es nicht sein darf.« Sie drückte dem Welpen einen Kuss auf und streckte ihn dann Jun Do hin. »Mehr kann ich ihr also nicht schenken.«
»Was für eine liebenswürdige Geste«, sagte Dr. Song mit einem kalten Lächeln. »Leider ist die Hundehaltung in Pjöngjang verboten.«
Sie schob Jun Do den Welpen auf den Arm. »Hören Sie nicht auf ihn und seine Vorschriften. Denken Sie an Ihre Frau. Sie werden schon einen Weg finden.«
Jun Do nahm das Hündchen.
»Der Catahoula ist ein Hirtenhund«, sagte sie. »Wenn der Welpe ungehalten ist, zwackt er Sie in die Hacken. Und wenn er seine Liebe zeigen will, zwackt er Sie ebenfalls in die Hacken.«
»Wir müssen zum Flugzeug«, versuchte Dr. Song zu unterbrechen.
»Wir haben ihn Brando genannt«, sagte die Frau des Senators. »Aber Sie können ihn nennen, wie Sie wollen.«
»Brando?«
»Genau. Sehen Sie diese Stelle da an seiner Flanke? Da würde man ein Brandmal hinsetzen.«
»Ein Brandmal?«
»Ein Brandmal ist ein in die Haut eingebranntes Zeichen, mit dem gezeigt wird: Das gehört für immer mir. «
»Wie eine Tätowierung?«
Sie nickte. »Genau, wie Ihre Tätowierung zum Beispiel.«
»Dann soll er Brando heißen.«
Der Minister ging auf den Thunderbird zu, aber der
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