Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
Vom Netzwerk:
die Kühlbox und spritzte sich das mit Blut vermischte rosa Eiswasser in die Augen, um die Erde auszuspülen. Im Raum befand sich ein Wachsoldat, der an die Wand gelehnt auf einer Kiste saß. Er warf seine Zigarette weg, um die von den Sanitätern angebotene American Spirit anzunehmen. Jun Do streckte ebenfalls die Hand nach einer Zigarette aus.
    Ein Sanitäter fragte den Wachsoldaten: »Wer ist dieser Typ?«, und zeigte auf Jun Do.
    Der Wachsoldat atmete den Rauch seiner edlen Zigarette tief ein. »Jemand, der so wichtig ist, dass er am Sonntag gebracht wird«, antwortete er.
    »Das sind meine Zigaretten«, sagte Jun Do, und widerstrebend gab ihm der Sanitäter eine ab.
    Eine alte Frau kam herein. Sie war dünn und gebeugt und hatte die Hände mit Stoffstreifen umwickelt. Sie trug einen großen Fotoapparat auf einem hölzernen Stativ, das genau wie bei der japanischen Fotografin aussah, die er entführt hatte.
    »Da ist sie ja«, sagte der Wachsoldat. »An die Arbeit.«
    Die Sanitäter rissen Leukoplaststreifen zur Vorbereitung ab.
    Gleich würde Jun Do Zeuge des düstersten aller Geschäfte werden, aber die Zigarette beruhigte ihn.
    Plötzlich fiel ihm etwas ins Auge. Er sah die nackte Wand über der Tür an: Sie war völlig leer – dort war einfach nichts. Er zog die kleine Kamera aus der Tasche, und während der Wachsoldat und die Sanitäter über die Vorzüge verschiedener Zigarettenmarken diskutierten, knipste Jun Do die leere, weiße Wand. Darauf darfst du dir jetzt einen Reim machen, Wanda , dachte er. Noch nie in seinem Leben war er in einem Raum gewesen, in dem nicht die Porträts von Kim Il Sung und Kim Jong Il über der Tür hingen. Nicht im ärmsten Waisenhaus, nicht im ältesten U-Bahn-Waggon, nicht einmal im abgebrannten Scheißhaus auf der Junma . Nie zuvor war er an einem Ort gewesen, der des ewig fürsorglichen Blickes des Großen und des Geliebten Führers nicht würdig war. Jetzt aber wusste er, dass er an einen Ort gelangt war, der ohne Bedeutung war – schlimmer noch: Er existierte nicht einmal.
    Als er die Kamera wegsteckte, sah er, wie die alte Frau ihn anstarrte. Sie hatte Augen wie die Frau des Senators – er hatte das Gefühl, sie konnte Dinge in ihm sehen, von denen nicht einmal er selbst etwas wusste.
    Einer der Sanitäter schrie zu Jun Do hinüber, er solle eine Lattenkiste von dem Stapel in der Ecke holen. Jun Do brachte die Kiste hinüber ans Bett einer Frau, deren Unterkiefer rund um den Kopf mit Stoffstreifen hochgebunden war. Der andere Sanitäter schob die Kiste unter das Fußende, band dann die Schuhe der Frau los – Stücke von alten Autoreifen, die mit Draht umwickelt waren. Der andere packte Schläuche und Transfusionsnadeln aus, alles kostbarer Krankenhausbedarf.
    Jun Do berührte die Haut der Frau – sie war kühl.
    »Ich glaube, wir kommen zu spät«, sagte er zu den Sanitätern.
    Sie ignorierten ihn. Beide steckten Kanülen in die Adern auf ihren Fußrücken und schlossen je zwei leere Blutbeutel an. Die alte Fotografin erschien mit ihrem Apparat. Sie ließ sich vom Wachsoldaten den Namen der Frau nennen und schrieb ihn auf eine graue Schiefertafel, die sie der Frau auf die Brust legte. Dann wickelte sie der Frau die Stoffstreifen vom Kopf. Als sie ihr die Mütze abnahm, fielen die meisten Haare mit aus und blieben als schwarzer Wirbel darin hängen.
    »Hier«, sagte die Fotografin und steckte Jun Do die Mütze zu. »Nimm.«
    Die Mütze war speckig von uraltem Fett, und Jun Do zögerte.
    »Weißt du, wer ich bin?«, fragte die alte Fotografin. »Ich bin Mongnan. Ich fotografiere jeden, der an diesen Ort kommt, und jeden, der ihn verlässt.« Sie schüttelte die Mütze eindringlich. »Das ist Wolle. Du wirst sie brauchen.«
    Jun Do steckte die Mütze nur ein, damit sie still war, damit sie mit ihrem verrückten Geschwätz aufhörte.
    Als Mongnan das Foto der Frau schoss, weckte der Blitz sie für einen Moment auf. Von ihrer Bahre streckte sie den Arm nach Jun Do aus und umklammerte sein Handgelenk. In ihren Augen stand unmissverständlich der Wunsch geschrieben, ihn mit sich zu nehmen. Die Sanitäter brüllten, er solle ihr Kopfende anheben. Als er das tat, traten sie die Kiste unter dem Fußende weg, woraufhin sich die vier Blutbeutel rasch füllten.
    Jun Do sagte zu den Sanitätern: »Wir sollten uns beeilen. Es wird bald dunkel, und der Fahrer hat gesagt, er hat kein Licht.«
    Die Sanitäter ignorierten ihn.
    Der Nächste war ein Teenager, dessen Brust kühl und

Weitere Kostenlose Bücher