Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
auch nicht angehalten. Jun Do bemerkte, dass in den kleinen Windstrudeln, die zwischen den Bodenbrettern hochbliesen, Eierschalen tanzten. Es waren eine Menge Schalen, wahrscheinlich von einem ganzen Dutzend hartgekochter Eier, zu viele, als dass ein einzelner Mensch sie hätte verzehren können. Und da niemand Eier mit Fremden teilen würde, musste es eine Familie gewesen sein. Durch die Öffnung der Plane an der Rückseite des Lasters sah Jun Do Feldwachtürme; auf jedem hockte ein mit einem alten Gewehr bewaffneter Lokalkader und bewachte die Maisterrassen vor den Bauern, die sie bestellten. Jun Do sah Kipplaster voller Dorfleute auf dem Weg zu Arbeitseinsätzen beim Bau. Lange Reihen von Zwangsverpflichteten trugen riesige Gesteinsbrocken entlang der Straße, um ausgewaschene Streckenabschnitte auszubessern. Und doch war das im Vergleich zum Lager eine frohe Arbeit. Er dachte daran, wie ganze Familien dorthin transportiert wurden. Wenn Kinder da gesessen hatten, wo er jetzt saß, wenn alte Leute diese Bank eingenommen hatten, dann war absolut niemand sicher – eines Tages konnte auch er von einem solchen Militärtransporter abgeholt werden. Die Eierschalen drehten sich wie Kreisel im Wind; geradezu verspielt wirkten die Bewegungen. Als sie in die Nähe von Jun Dos Füßen trieben, zertrat er sie.
Am späten Nachmittag schließlich fuhr der Laster hinunter in ein Flusstal. Am diesseitigen Ufer befand sich eine große Lagerstadt – Tausende von Menschen, die in Schlamm und Schmutz lebten, um ihren Angehörigen auf der anderen Seite nahe zu sein. Dort begann eine andere Welt. Durch einen Spalt in der schwarzen Plane sah Jun Do Hunderte ziehharmonikaartige Baracken, in denen Tausende von Menschen untergebracht waren, und dann hing auch schon der Gestank von fermentierender Sojamaische in der Luft. Der Militärlaster fuhr an einem Grüppchen kleiner Jungen vorbei, die Eibenzweige schälten. Werkzeug hatten sie keines – den Anfang machten sie mit ihren Zähnen, das erste kleine Rindenstück lösten sie mit den Fingernägeln, und mit den dünnen Ärmchen rissen sie schließlich die Rinde ab. Normalerweise hätte sich Jun Do bei einem solchen Anblick wie zu Hause gefühlt. Aber derartige Knochengespenster hatte er noch nie gesehen, und sie arbeiteten schneller, als es die Waisenkinder in Frohe Zukunft je getan hatten.
Das Tor war ganz einfach konstruiert: Ein Mann legte einen großen elektrischen Schalter um, und ein zweiter schob einen Abschnitt des Elektrozauns beiseite. Die Sanitäter holten besudelte Latexhandschuhe aus der Tasche und streiften sie über. Vor einem dunklen Holzschuppen hielten sie an. Die beiden sprangen heraus und befahlen Jun Do, die Kühlbox zu tragen. Aber er rührte sich nicht vom Fleck. Seine eingeschlafenen Beine prickelten, und wie betäubt beobachtete er eine Frau, die einen Reifen hinter dem Laster vorbeirollte. Ihre Beine endeten kurz unterm Knie. Sie hatte ein Paar Arbeitsstiefel rückwärts angezogen: Die kurzen Stümpfe steckten im Fußteil, während ihre Kniegelenke in den Hacken saßen. Der Stiefelschaft war eng geschnürt, und bei der Verfolgung des Reifens schwang die Frau ihre kurzen Beinchen erstaunlich geschickt vorwärts.
Einer der Sanitäter nahm eine Handvoll Dreck und warf sie Jun Do ins Gesicht. Seine Augen waren voller Sand und tränten. Am liebsten hätte er dem Vollidioten den Kopf abgetreten. Aber an einem Ort wie diesem sollte man derart dumme Fehler tunlichst vermeiden. Außerdem schaffte er es nur mit knapper Not, die Kühlbox hochzuwuchten, hinten aus dem Laster zu springen und auf den Beinen zu bleiben. Nein, am besten brachte man die Sache schnell hinter sich und haute wieder ab.
Er folgte den Sanitätern in eine zentrale Abfertigungsstelle, in der mehrere Dutzend Kranke aufgebahrt lagen, die dem Tod sehr nahe waren, wenn sie überhaupt noch lebten. Apathisch und leise murmelnd lagen sie da, wie die Fische ganz unten im Frachtraum, die nur noch ein letztes Mal mit den Kiemen zuckten, bevor das Messer herabsauste. Er sah den nach innen gerichteten Blick glühenden Fiebers, die gelbgrüne Haut des Organversagens und Wunden, die nur deshalb nicht mehr bluteten, weil das Blut dazu fehlte. Das Grausigste aber war, dass er die Männer kaum von den Frauen unterscheiden konnte.
Jun Do setzte die Kühlbox schwer auf einem Tisch ab. Seine Augen brannten wie Feuer, und als er sie mit dem Hemd rieb, schmerzten sie nur umso mehr. Ihm blieb keine Wahl – er öffnete
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