Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
der Universität völlig aus der Luft gegriffen. Solche Anschuldigungen lassen sich nur schwer beweisen oder widerlegen. Bei uns arbeitet man üblicherweise zu zweit, damit man sich gegenseitig überwachen oder im Ernstfall Beweise gegen den anderen liefern kann. Bei einem Professor ist das anders, der waltet ganz allein über seinen Hörsaal. Es wärekinderleicht gewesen, ein Geständnis aus dem Professor herauszuholen, aber so arbeiten wir nicht. Nicht wir. Denn unsere Abteilung 42 besteht aus zwei Lagern.
Unsere Rivalen sind die Pubjok – Verhörspezialisten, die nach jenen Verteidigern benannt sind, die Pjöngjang 1136 wie eine schwebende Mauer vor einer Invasion bewahrten. Heute sind nur noch rund ein Dutzend Pubjok übrig, alte Männer mit silbernem Bürstenschnitt, die wie eine Mauer in einer Reihe laufen und tatsächlich glauben, dass sie unsichtbar wie Gespenster von einem Bürger zum nächsten schweben und ihn belauschen können, wie der Wind die Blätter. Sie brechen sich ständig die Hände, absichtlich, weil die Knochen dann angeblich stärker zusammenwachsen. Es ist ein schrecklicher Anblick, wenn ein alter Mann vor einem steht und plötzlich, aus heiterem Himmel, seine Hand gegen den Türrahmen oder auf die Kante eines Feuerfasses oder einer Autotür donnert. Wenn ein Pubjok sich die Hand brechen will, dann versammeln sich alle übrigen um ihn, und wir anderen, die vernunftgeleiteten Mitarbeiter der Abteilung 42, wenden den Kopf ab. Junbi! sagen sie eher leise, dann zählen sie hana, dul, set , und schließlich brüllen sie Sijak! – und schon hört man den seltsam dumpfen Aufprall einer Hand. Die Pubjok sind davon überzeugt, dass allen in Abteilung 42 eintreffenden Klienten sofort mit äußerster Brutalität begegnet werden sollte – mit willkürlichem, lang anhaltendem, klassischem Schmerz.
Auf der anderen Seite steht mein Team – ich verbessere mich: unser Team, denn bei uns steht der Teamgeist im Vordergrund. Wir brauchen keinen bildreichen Namen, und unser einziges Hilfsmittel beim Verhör ist unser scharfer Verstand. Die Pubjok sind während des Vaterländischen Befreiungskriegs oder unmittelbar danach aufgewachsen, man mussVerständnis für sie haben. Sie genießen unseren Respekt, aber Verhöre sind heutzutage eine Wissenschaft: Was zählt, sind langfristig auswertbare, konsistente Ergebnisse. Brutalität hat ihren Platz, das geben wir gerne zu, sollte aber taktisch eingesetzt werden, selten und gezielt im Laufe einer langen Reihe von Verhören. Und Schmerz – die riesig aufblühende weiße Blume – kann in der Form, in der wir ihn einsetzen, nur einmal angewandt werden: unverhüllter, allumfassender, transformierender Schmerz. Und da wir in unserem Team alle an der Kim-Il-Sung-Universität studiert haben, sind uns alte Professoren grundsätzlich sympathisch, sogar unser trauriger kleiner Häftling aus einem Bezirkskolleg unten in Kaesŏng.
In einem der Verhörzimmer kippten wir unseren Herrn Professor auf einem der erstaunlich bequemen Frage-und-Antwort-Stühle nach hinten. Die lassen wir von einem Unternehmen in Syrien anfertigen – sie sehen ähnlich aus wie ein Zahnarztstuhl, mit Kopf- und Armstützen und hellblauem Lederbezug. Neben dem Sessel steht allerdings ein Gerät, das die Leute nervös macht. Autopilot heißt es. Das ist unser einziges anderes Hilfsmittel, könnte man sagen.
»Ich dachte, Sie hätten jetzt alles, was Sie brauchen«, sagte der Professor. »Ich habe die Fragen beantwortet.«
»Sie waren wunderbar«, versicherten wir ihm. »Wirklich.«
Dann überreichten wir ihm seine Biografie. Sie war 212 Seiten stark und das Ergebnis zahlloser Interviews. Der ganze Professor war darin enthalten, angefangen bei seinen frühesten Erinnerungen – seine Parteiausbildung, wichtige private Ereignisse, Erfolge und Misserfolge, Affären mit Studentinnen ... eine vollständige Dokumentation seiner Existenz bis zu seinem Eintreffen in der Abteilung 42. Beeindruckt blätterte er darin. Wir verwenden eine Buchbindemaschine, die Art, mit der man auch die Rücken der Doktorarbeiten klebt, deshalb sehen unsere Biografien richtig professionell aus. Die Pubjok schlagen stumpf zu, bis einer gesteht, dass er Radio gehört hat, egal, ob er wirklich ein Radio besitzt oder nicht. Unser Team erschließt ein ganzes Leben in all seinen Details, mit sämtlichen Beweggründen, und gestaltet daraus ein einzigartiges Werk, ein Unikat, in dem die Person selbst enthalten ist. Halten wir erst
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