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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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bläulich war. Seine Augen waren verdreht, und er konnte sie nur ruckartig bewegen. Einer seiner Arme hing vom Feldbett herunter auf den rohen Dielenboden.
    »Wie heißt du?«, fragte Mongnan.
    Sein Mund zuckte, als wolle er seine Lippen zum Sprechen befeuchten, aber es kamen keine Worte.
    Zärtlich, mit mütterlicher Stimme, flüsterte sie dem sterbenden Jungen zu: »Schließ die Augen«, und als er es tat, schoss sie das Foto.
    Die Sanitäter klebten die Transfusionsnadeln mit dem Leukoplast an ihm fest, und der Vorgang wiederholte sich. Jun Do hob das Feldbett an und schob eine Kiste unters Fußende, der Kopf des Jungen rollte weich zur Seite, und dann musste Jun Do die warmen Blutkonserven zur Kühlbox tragen. Das Leben des Jungen, sein Lebenselixier, war warm in diese Plastikbeutel gelaufen, die Jun Do jetzt in der Hand hielt, und es war, als sei der Junge in diesen Beuteln noch lebendig, bis Jun Do ihm selbst das Licht ausblies, indem er sie ins Eiswasser gleiten ließ. Er erwartete, dass die warmen Blutkonserven schwimmen würden, aber sie sanken nach unten.
    Mongnan flüsterte Jun Do ins Ohr: »Such dir ein Paar Stiefel.«
    Jun Do warf ihr einen skeptischen Blick zu, tat aber wie befohlen.
    Es gab nur einen Mann, dessen Stiefel aussahen, als könnten sie passen. Das Obermaterial war an vielen Stellen geflickt, aber die Sohlen stammten von Militärstiefeln. Der Mann gab im Schlaf krächzende Geräusche von sich, als stiegen Blasen in seiner Kehle herauf, die dann in seinem Mund platzten.
    »Nimm die«, befahl Mongnan.
    Jun Do schnürte die Stiefel auf. Sie würden ihn nicht zwingen, Arbeitsstiefel anzuziehen, wenn ihm nicht eine weitere hässliche Aufgabe bevorstand – er konnte nur hoffen, dass er nicht diese ganzen verdammten Kadaver hier begraben musste.
    Als Jun Do dem Mann die Schuhe von den Füßen zog, erwachte der. »Wasser«, sagte er, noch bevor er die Augen offen hatte. Jun Do erstarrte und hoffte, der Mann würde nicht zu Bewusstsein gelangen. Der aber öffnete die Augen und sah ihn an. »Sind Sie Arzt?«, fragte der Mann. »Ein Erzkarren ist umgekippt – ich spüre meine Beine nicht mehr.«
    »Ich helfe hier nur kurz aus«, erwiderte Jun Do. Der Mann schien tatsächlich nichts zu merken, als Jun Do ihm die Stiefel abstreifte. Er trug keine Socken. Mehrere seiner Zehen waren schwarz und gebrochen, und einige fehlten ganz. Aus den verbliebenen Stummeln drang ein teefarbener Saft.
    »Sind meine Beine noch dran?«, fragte der Mann. »Ich habe kein Gefühl mehr darin.«
    Jun Do nahm die Stiefel und wich zurück, zu Mongnan und ihrer Kamera.
    Er schüttelte die Stiefel und schlug die Sohlen aneinander,aber es fielen keine Zehen heraus. Er hob sie einzeln hoch und zog die Lasche zurück, um so weit wie möglich hineinspähen zu können – nichts zu sehen. Er konnte nur hoffen, dass die fehlenden Zehen irgendwo anders abgefallen waren.
    Mongnan verlängerte das Stativ auf Jun Dos Größe. Sie reichte ihm eine kleine, graue Schiefertafel und einen Kreidestein. »Schreib deinen Namen und dein Geburtsdatum da drauf.«
    Pak Jun Do schrieb er, zum zweiten Mal an einem Tag.
    »Mein Geburtsdatum ist unbekannt«, sagte er.
    Wie ein Kind kam er sich vor, als er die Schiefertafel unter sein Kinn hielt, wie ein kleiner Junge. Warum macht sie ein Bild von mir? , dachte er, fragte aber nicht.
    Mongnan drückte auf einen Knopf, und als es blitzte, schien alles verändert. Er war jetzt auf der anderen Seite des hellen Lichts, dort, wo auch die blutleeren Menschen auf den Feldbetten waren – auf der anderen Seite des Blitzlichts.
    Die Sanitäter schrien, er solle ein Feldbett anheben.
    »Kümmer dich nicht mehr um sie«, sagte Mongnan. »Wenn sie fertig sind, übernachten sie auf dem Lastwagen, und morgen früh fahren sie nach Hause. Du musst dich um dich selbst kümmern, bevor es zu dunkel wird.«
    Mongnan rief zum Wachsoldaten hinüber, was für eine Barackennummer Pak Jun Do habe. Die schrieb sie ihm auf den Handrücken. »Normalerweise kriegen wir sonntags keine Neuzugänge«, sagte sie. »Du bist so ziemlich auf dich gestellt. Als Erstes musst du deine Baracke finden. Du musst dich etwas ausruhen. Morgen ist Montag – am Montag sind die Wachsoldaten die Hölle.«
    »Ich muss gehen«, sagte er. »Ich habe keine Zeit, jemanden zu begraben.«
    Sie hob seine Hand und zeigte ihm die Barackennummer,die sie ihm quer über die Fingerknöchel geschrieben hatte. »Hör zu – du bist jetzt das hier. Ich habe dich im

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