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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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forderte der andere ihn auf. »Und diesmal alles.«
    Jun Do führte immer wieder die erlittenen Demütigungen auf – keine Militärkapelle am Flughafen, kein roter Teppich,dass Tommy seine Spuren auf dem Rücksitz hinterlassen hatte. Sie hatten wie die Tiere mit den Fingern essen müssen. Er versuchte, sich zu erinnern, wie viele Schüsse aus den antiken Revolvern abgefeuert worden waren. Er beschrieb die alten Autos. Hatte er schon den Hund in seinem Bett erwähnt? Konnte er ein Glas Wasser bekommen? Keine Zeit, sagten die zwei, sie seien bald fertig.
    Einer der beiden Beamten drehte die DVD in den Händen. »Ist das HD?«, fragte er.
    Der andere winkte ab. »Vergiss es, der Film ist in Schwarzweiß.«
    Sie schossen mehrere Fotos mit der Kamera, fanden aber nicht heraus, wie man sich die Fotos ansehen konnte.
    »Ist kaputt«, sagte Jun Do.
    »Und die?« Sie hielten die Antibiotika hoch.
    »Für Frauenleiden«, antwortete Jun Do.
    »Sie müssen uns Ihre Geschichte erzählen«, sagte der eine. »Wir müssen alles aufschreiben. Wir sind gleich wieder da, aber Sie können schon mal üben. Wir hören zu, wir hören alles, was Sie sagen.«
    »Von Anfang bis Ende«, schärfte der andere ihm ein.
    »Aber wo soll ich anfangen?«, fragte Jun Do. Begann die Geschichte seiner Reise nach Texas in dem Moment, als er mit dem Wagen abgeholt wurde, oder als er zum Helden erklärt wurde, oder als der Zweite Maat in den Wellen versank? Und wie endete sie? Ihn überkam das schreckliche Gefühl, dass diese Geschichte noch lange nicht zu Ende war.
    »Los, üben!«, befahl der Beamte.
    Beide verließen die Reparaturbucht, und dann hörte er gedämpft das Echo des Ministers, der seine Geschichte erzählte. »Ich wurde von einem Wagen abgeholt«, sagte Jun Do laut. »Es war Morgen. Auf den Schiffen im Hafen trockneten dieNetze. Es war ein viertüriger Mercedes mit zwei Fahrern. Der Wagen hatte Scheibenwischer und ein serienmäßiges Radio ...«
    Er sprach zu den Deckenstreben. Dort oben waren Vögel zu sehen, die mit den Köpfen nickten und auf ihn herunterschauten. Je detaillierter er seine Geschichte erzählte, desto seltsamer und unwahrscheinlicher kam sie ihm vor. Hatte Wanda ihm wirklich Limonade mit Eiswürfeln serviert? Hatte der Hund tatsächlich einen Rippenknochen angeschleppt, als er aus der Dusche trat?
    Als die Beamten zurückkehrten, war Jun Do erst bis zu der Stelle gelangt, an der er im Flugzeug zum ersten Mal die Kühlbox mit Tigerfleisch geöffnet hatte. Der eine hörte Musik auf dem iPod des Ministers, der andere sah verärgert drein. Aus Jun Dos Mund kam seltsamerweise nur das, was sie bei der Landung abgesprochen hatten. »Auf dem Bett lag ein Hund«, sagte er. »Auf dem Rücksitz waren Männerspuren.«
    »Und Sie haben ganz sicher nicht so was gekriegt?«, fragte der eine und hielt den iPod hoch.
    »Vielleicht hat er ihn irgendwo versteckt.«
    »Stimmt das? Wo haben Sie ihn versteckt?«
    »Die Autos waren uralt«, sagte Jun Do. »Die Revolver eine Gefahr für den Schützen.«
    Die ursprüngliche Version der Geschichte kam ihm ständig wieder in den Sinn, und er hatte Panik, dass er versehentlich sagen würde, das Telefon hätte vier Mal geklingelt und der Senator hätte drei Worte hineingesprochen. Dann fiel ihm wieder ein, dass das ja falsch war, und das Telefon drei Mal geklingelt und der Senator vier Worte gesprochen hatte. Jun Do versuchte, seinen Kopf frei zu bekommen, weil das ja alles ganz falsch war, das Telefon nie geklingelt und der amerikanische Präsident nie angerufen hatte.
    »Hey, nun reicht’s aber«, sagte einer der Beamten. »Wir haben den alten Mann gefragt, wo sein Fotoapparat ist, und er behauptet, er wüsste nicht, wovon wir reden. Aber ihr habt alle dieselben Handschuhe und Zigaretten und so weiter gekriegt.«
    »Mehr habe ich nicht«, erwiderte Jun Do. »Sie haben alles, was ich besitze.«
    »Na, sehen wir mal, was der Dritte zu erzählen hat.«
    Sie händigten Jun Do ein Blatt Papier und einen Kugelschreiber aus.
    »Dann schreiben Sie jetzt alles schön auf«, sagten sie und verschwanden erneut.
    Jun Do nahm den Stift zur Hand. »Ich wurde von einem Wagen abgeholt«, schrieb er, aber die Kugelschreibermine war praktisch leer. Er beschloss, gleich mit Texas weiterzumachen. Er schüttelte den Kuli und schrieb: »... und zu einem Schuhgeschäft gebracht.« Er wusste, dass er dem Kugelschreiber nur noch einen einzigen Satz abringen konnte. Er drückte ganz stark auf: »Dort fing meine Demütigung

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