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Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Titel: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Johnson
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an.«
    Jun Do nahm das Blatt in die Hand und las seine zwei Sätze lange Geschichte durch. Dr. Song hatte gesagt, in Nordkorea sei nicht der Mensch, sondern nur seine Geschichte von Bedeutung – was bedeutete es dann, wenn seine Geschichte ein Nichts war, nichts als die Andeutung eines Lebens?
    Einer der Krähenfahrer kam in den Hangar, ging auf Jun Do zu und fragte ihn: »Bist du der, den ich mitnehmen soll?«
    »Wohin mitnehmen?«, fragte Jun Do.
    Ein Beamter kam zu ihnen herüber. »Was gibt’s?«, fragte er.
    »Meine Scheinwerfer sind hinüber«, sagte der Fahrer. »Ich muss jetzt los, sonst schaff ich das nie.«
    Der Vernehmungsbeamte sagte zu Jun Do: »Bei Ihnen istalles klar, wir haben Ihre Geschichte überprüft. Sie können gehen.«
    Jun Do hielt ihm sein Blatt hin. »Mehr habe ich nicht«, sagte er. »Die Tinte war alle.«
    Der Beamte sagte: »Hauptsache, Sie haben irgendwas. Ihre richtigen Unterlagen haben wir sowieso schon eingeschickt. Das hier ist nur eine persönliche Stellungnahme. Keine Ahnung, wofür wir die eigentlich brauchen.«
    »Soll ich unterschreiben?«
    »Kann nicht schaden«, sagte der Beamte. »Genau, machen wir’s offiziell. Hier, Sie können meinen Stift benutzen.«
    Er reichte Jun Do den Kugelschreiber, den Dr. Song vom Bürgermeister von Wladiwostok bekommen hatte.
    Der Kugelschreiber schrieb flüssig – Jun Do hatte seit der Sprachschule nirgendwo mehr unterschrieben.
    »Nehmt ihn besser gleich mit«, sagte der Beamte zum Fahrer, »sonst hockt der hier noch ewig rum. Der alte Typ hat nach mehr Papier verlangt.« Er gab dem Fahrer ein Päckchen Zigaretten, American Spirit , und fragte, ob er die Sanitäter mitnehme.
    »Genau. Die sitzen schon im Laster.«
    Der Vernehmungsbeamte händigte Jun Do seine Casablanca -DVD, seine Kamera und seine Tabletten aus und brachte ihn bis ans Tor. »Die Männer fahren nach Osten«, sagte er zu Jun Do. »Sie können bei ihnen mitfahren. Die Sanitäter befinden sich auf einer Mission der Barmherzigkeit; wahre Helden der Volksrepublik, diese Leute. Sie glauben ja nicht, wie dringend die Krankenhäuser in der Hauptstadt auf sie warten. Wenn die beiden Hilfe brauchen, dann helfen Sie ihnen, klar? Ich will hinterher nicht hören, dass Sie nicht vernünftig zugepackt oder sich gedrückt haben – verstanden?«
    Jun Do nickte. Am Tor warf er einen Blick zurück. Dr. Songund der Minister saßen zu weit hinten in den Reparaturbuchten, als dass er sie sehen konnte, aber Dr. Songs Stimme war laut und deutlich zu hören. »Eine höchst faszinierende Reise«, sagte Dr. Song, »ein einmaliges Erlebnis.«
    *
    Neun Stunden unter der schwarzen Plane hinten auf der Krähe. Von den vielen Schlaglöchern wurde er bis ins Mark durchgeschüttelt, und der Motor vibrierte so stark, dass er nicht mehr sagen konnte, wo sein Hintern aufhörte und die Holzbank anfing. Wenn er sich bewegen oder zwischen den Bodenplanken hindurch auf die Schotterpiste pinkeln wollte, reagierten seine Muskeln nicht. Sein Steißbein war erst taub, dann eine Höllenpein. Unter der Plane sammelte sich der Staub, an der Antriebswelle vorbei schossen Schottersteine nach oben, und Jun Dos Leben war wieder einmal aufs Durchhalten reduziert.
    Auf der Ladefläche saßen außer ihm noch zwei Männer. Die beiden trugen weder Uniform noch Abzeichen, aber zwischen ihnen stand eine große weiße Kühlbox. Beide hatten einen völlig erloschenen Blick; von allen Scheißjobs der Welt hatten die wirklich den schlimmsten erwischt, dachte Jun Do. Trotzdem versuchte er, ein Gespräch mit ihnen anzufangen.
    »Und, ihr seid also Sanitäter?«, fragte er sie.
    Der Laster holperte über einen Stein. Der Deckel der Kühlbox flog hoch, und rosa Eiswasser schwappte heraus.
    Jun Do versuchte es noch einmal: »Der Typ am Flughafen hat gesagt, ihr wärt echte Helden der Volksrepublik.«
    Sie wollten ihn einfach nicht ansehen. Die armen Schweine, dachte Jun Do. Da würde er lieber in einem Minensuchtrupp mitmachen als bei den Blutzapfern. Er hoffte nur,dass er in Kinjye abgesetzt wurde, bevor die zwei zum Einsatz kamen. Er lenkte sich mit dem Gedanken an das sanfte Schaukeln der Junma ab, an Zigaretten und Geplauder mit dem Kapitän, an den Augenblick, wenn er an seinen Knöpfen drehen und seine UKW-Empfänger zum Leben erwecken würde.
    Sämtliche Kontrollpunkte passierten sie problemlos. Woher die Soldaten wussten, dass ein Blutkonserven-Team an Bord war, war Jun Do ein Rätsel, aber er hätte den Transporter an ihrer Stelle

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