Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Kasten. Das sind jetzt deine Stiefel.«
Sie schob ihn auf eine Tür zu. Er blickte über die Schulter zurück und suchte nach den Porträts von Kim Jong Il und Kim Il Sung. Panik durchzuckte ihn. Wo waren sie, wenn man sie brauchte?
»Hey«, rief einer der Sanitäter. »Wir sind noch nicht fertig mit ihm.«
»Geh«, drängte ihn Mongnan. »Ich kümmere mich um die zwei. Such deine Baracke, bevor es zu dunkel ist.«
»Und dann? Was mache ich dann?«
»Mach dasselbe wie alle anderen«, antwortete sie und zog ein milchigweißes Bällchen aus Maiskörnern hervor. Das gab sie ihm. »Wenn die anderen schnell essen, isst du auch schnell. Wenn sie zu Boden sehen, wenn jemand vorbeikommt, dann tust du das auch. Wenn sie einen Gefangenen denunzieren, dann machst du mit.«
Als Jun Do die Tür öffnete, die Stiefel in der Hand, sah er vor sich das dunkle Lager, das sich in alle Richtungen durch die tiefen, eisigen Täler eines riesigen Gebirges erstreckte, dessen Gipfel noch im letzten Sonnenlicht leuchteten. Er sah die glühenden Mäuler der Mineneingänge und das Flackern der Fackeln darin. Erzkarren wurden mit Muskelkraft herausgeschoben und blitzten in den Flutlichtern auf, die sich in Schlammteichen spiegelten. Überall warfen Kochfeuer einen orangeflackernden Schein auf die Ziehharmonikagebäude, und beißender Rauch von feuchtem Feuerholz brachte ihn zum Husten. Er wusste nicht, wo dieses Gefängnis war. Er wusste noch nicht einmal, wie es hieß.
»Und lass bloß niemanden deine Kamera sehen«, beschwor ihn Mongnan. »In ein paar Tagen komme ich und sehe nach dir.«
Er schloss die Augen. Fast konnte er das Wehklagen der Wellblechdächer im Abendwind hören, das Ächzen von Nägeln im sich zusammenziehenden Holz, von menschlichen Knochen, die auf dreißigtausend Schlafstellen steif wurden. Er konnte das langsame Schwenken der Suchscheinwerfer hören, das Summen des Stroms, der durch die Zäune floss, und das eisige Knistern der Porzellanisolatoren auf den Pfosten. Und gleich würde er mitten drin sein, im Bauch des Schiffs, doch diesmal gab es kein Auftauchen, keine Luke nach oben, nur langsames, endloses Schwanken.
Mongnan zeigte auf die Stiefel in seiner Hand. »Die werden sie dir zu klauen versuchen. Kannst du kämpfen?«
»Ja«, sagte er.
»Dann zieh sie an«, befahl sie ihm.
Wenn man in einem Stiefel nach klebrigen, abgestorbenen Zehen graben muss, geht man genauso vor, wie wenn man den Deckel eines DMZ-Tunnels aufmachen oder in Japan einen Unbekannten vom Strand pflücken muss: Man atmet tief ein und tut’s. Jun Do schloss die Augen, holte Luft und fasste in die stinkenden Stiefel, bewegte die Finger von links nach rechts und tastete sich bis ans Ende vor. Schließlich drehte er die Hand, sodass er die Spitze auskratzen konnte, und entfernte, was zu entfernen war. Er verzog das Gesicht.
Er wandte sich zu den Sanitätern, zum Wachsoldaten, zu den Todgeweihten um.
»Ich war ein vorbildlicher Bürger«, verkündete er. »Ich war ein Held der Nation«, fügte er hinzu, und dann trat er in seinen neuen Stiefeln durch die Tür, hinaus in einen bedeutungslosen Ort, und an dieser Stelle verliert sich der weitere Weg des Bürgers Pak Jun Do.
ZWEITER TEIL
Das Geständnis des Kommandanten Ga
Ein Jahr später
WIR WAREN GERADE DABEI , nach vier Wochen endlich die Befragung eines Professors aus Kaesong zu beenden, als sich das Gerücht wie ein Lauffeuer im Haus ausbreitete: Kommandant Ga sei festgenommen worden und befinde sich bei uns, hier in Abteilung 42, in Haft. Umgehend schickten wir unsere Praktikanten Q-Ki und Jujack nach oben in die Verwaltung, um herauszufinden, ob das stimmte. Natürlich konnten wir es kaum abwarten, Kommandant Ga mit eigenen Augen zu sehen, besonders nach all dem Gerede, das in letzter Zeit in Pjöngjang die Runde gemacht hatte. Sollte es derselbe Kommandant Ga sein, der den Goldgurt gewonnen, Kimura in Japan bezwungen, die Armee von Homosexuellen gesäubert und schließlich unsere Volksschauspielerin geheiratet hatte?
Doch unsere Arbeit mit dem Professor befand sich in einer entscheidenden Phase und konnte nicht einfach unterbrochen werden, um Berühmtheiten zu begaffen. Der Professor war ein Fall wie aus dem Bilderbuch: Man warf ihm konterrevolutionäre Umtriebe in der Lehre vor, insbesondere die Benutzung eines illegalen Radios, mit dem er seinen Studierenden südkoreanische Popmusik vorgespielt haben soll. Es war im Grunde ein alberner Vorwurf, vermutlich von einem Rivalen an
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