Das geraubte Paradies
Arcadion erinnern?«, fragte Carya.
»Das und Schlimmeres: Aidalon könnte bei den Truppen aus Arcadion sein.«
»Der Großinquisitor?«, fragte Carya, und gegen ihren Willen fröstelte es sie. Sie wollte keine Angst vor diesem Mann haben, der ihr und ihren Eltern so übel mitgespielt hatte. Mittlerweile wusste sie, dass sie ihn binnen Sekunden zu töten vermochte, sollten sie sich jemals wieder gegenüberstehen. Aber der Gedanke, dass er von Dutzenden schwarz gepanzerten Templern und Gardisten umgeben sein mochte, die ihm das widerspenstige Schulmädchen mit Freuden ausliefern würden, behagte ihr ganz und gar nicht. Sie hatte die Nacht in den Kellern des Tribunalpalasts nicht vergessen – und auch den Morgen nicht, an dem sie gehängt werden sollte.
»Er war einer der Hauptunterhändler dieser Allianz zwischen dem Mondkaiser und Arcadion«, sagte Jonan. »Außerdem sprechen wir hier vom Kampf gegen den Ketzerkönig. Obwohl Aidalon kein Militär ist, sondern der Inquisition vorsteht, könnte ich mir gut vorstellen, dass er bei diesem Feldzug mit von der Partie sein will – gut geschützt hinter den Linien natürlich.«
»He, toll, dann lerne ich den Mistkerl vielleicht auch endlich mal kennen«, warf Pitlit ein, aber in seiner Stimme lag kein Hauch von Begeisterung.
»Das willst du nicht«, antwortete Carya kopfschüttelnd.
»Nein, vermutlich nicht«, gab der Straßenjunge zu.
»Kommt«, sagte Jonan und fasste Carya am Arm. »Wir haben genug Zeit auf diesem Markt verloren. Verschwinden wir von hier. Je schneller wir Genève und die Berge erreichen, desto besser.«
Sie packten ihre Sachen zusammen und ließen die Menschentraube auf dem Marktplatz hinter sich. Während sie durch die Straßen liefen, kam Carya ein weiteres Problem in den Sinn, dem sie sich besser jetzt als später widmen sollten.
»Jonan, wir müssen mit Elje sprechen«, sagte sie leise. »Dieser Ort mag die letzte größere Siedlung sein, bevor wir die Schwarze Zone erreichen. Wir haben Denier versprochen, auf seine Tochter aufzupassen. Sie mit in die Schwarze Zone zu nehmen wäre vermutlich nicht in seinem Sinne gewesen.«
Jonan nickte. »Du hast recht. Bestimmt gibt es irgendwo in der Stadt eine Mission oder ein Waisenhaus, wo sie unterkommen kann. Es wird kein leichtes Leben werden, aber mit Sicherheit ist es besser, als mit uns zu gehen.«
Unter dem Vorwand, noch eine kurze Mahlzeit einnehmen zu wollen, bevor sie sich wieder in die Wildnis schlugen, machten sie in einem kleinen, heruntergekommen wirkenden Park Rast. Beim Essen unterbreitete Jonan Elje den zuvor mit Carya besprochenen Vorschlag. »Wir denken, dass es das Beste für dich wäre«, sagte er. »Dort, wohin wir gehen, ist es sehr gefährlich. Wir wissen nicht, was uns in der Schwarzen Zone erwartet. Es ist möglich, dass uns tödliche Bedrohungen bevorstehen.«
»Mann, wenn du es so sagst, klingt das echt wie eine dumme Idee, weiterzureisen«, warf Pitlit ein.
»Das Angebot gilt natürlich auch für dich«, sagte Carya. »Wenn du lieber in einer Stadt bleiben möchtest, in der du dich mit deinen … Talenten durchschlagen kannst, ist jetzt vermutlich die letzte Gelegenheit.«
»Wollte ich so leben wie früher, wäre ich in Arcadion oder Paris geblieben«, gab der Straßenjunge zurück. »Vergesst es. Jonan hat mir Abenteuer versprochen. Nur deshalb habe ich Suri zurückgelassen. Also gehe ich genau dahin, wo ihr auch hingeht. Außerdem komme ich nie zu den Ausgestoßenen zurück, wenn ich jetzt hier bleibe.«
Elje, die dem auf Arcadisch geführten Wortwechsel stumm zugehört hatte, sah Jonan fragend an. »Pitlit will nicht bleiben«, fasste er es für sie zusammen. »Was ist mit dir?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf.
»Bist du ganz sicher?«, fragte er noch einmal. »Wir könnten alle sterben.«
Energisch wiederholte Elje das Kopfschütteln, und wie um es zu unterstreichen, ergriff sie Jonans Hand. Mit der anderen deutete sie auf sich, dann im Kreis auf Carya, Jonan und Pitlit und schließlich wieder auf sich.
»Ich denke, das war eindeutig«, sagte der Straßenjunge.
Jonan nickte. »Also schön. Wir bleiben zusammen. Bis zum guten – oder bitteren – Ende.«
Kapitel 10
Mit dem Schreckgespenst namens Krieg im Nacken eilten Carya, Jonan, Pitlit und Elje in Richtung Osten. Je weiter sie kamen, desto bergiger wurde das Land. Erst begann die Handelsstraße, der zu folgen ihnen geraten worden war, sanft aber beständig anzusteigen. Dann rückten die
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