Das geraubte Paradies
war eine stille, leere Welt, durch die sie sich bewegten. Einen Markt fanden sie nicht. Genau genommen begegneten sie keiner einzigen lebenden Seele.
Stattdessen stießen sie irgendwann plötzlich auf einen Fluss. Er war beinahe so breit wie der Tevere, der durch Arcadion strömte, wirkte aber deutlich sauberer als der brackige, stinkende Strom aus Caryas Heimatstadt. Eine heruntergekommene Uferpromenade säumte den Fluss, schmutzig und moosbedeckt, von der in regelmäßigen Abständen schmale Treppen sowohl zu einer höher gelegenen Straße als auch hinunter ans Wasser führten. Ein paar verfallene Anlegestellen aus Holz und Metall waren dort zu sehen, die träge knarrend auf den Fluten schaukelten.
Und noch etwas schwamm im Wasser. »He, Leute, seht mal, ein Boot!«, rief Pitlit. Er deutete auf einen vielleicht vier Meter langen Kahn, der vor Jahrzehnten mal ein paar Anglern gehört haben mochte. Er stand aufgebockt an der Mauer der Uferpromenade, und die grüne Farbe blätterte in großen Fetzen vom dünnen Metallrumpf ab. Ein Segel oder einen Motor gab es nicht. Allerdings steckten unter dem Boot zwei Riemen aus diesem nicht verrottenden Material, das Carya mittlerweile mit der Zeit vor dem Sternenfall verband.
»Ich frage mich, ob das noch schwimmt«, sagte Jonan und ließ den Einkaufswagen los, in dem inzwischen all ihre Habseligkeiten lagen. Er trat hinüber, um mit den Fingern über das Metall zu streichen.
»Lass es uns einfach ausprobieren«, schlug Pitlit vor. »Wir schmeißen es ins Wasser und schauen, was passiert.«
»Warum eigentlich nicht? Den früheren Besitzer wird es kaum stören.« Gemeinsam hoben die beiden das Gefährt von den Backsteinen runter, auf denen es gestanden hatte, und trugen es die nächstbeste Treppe hinunter. Sie ließen es zu Wasser, und während Jonan das Boot mit der Linken festhielt, sprang der Straßenjunge hinein und drehte sich prüfend zwischen den rissigen Sitzbänken im Kreis. »Kein Wasser. Sieht gut aus.«
»Und nun?«, mischte sich Carya von oben ein. »Was wollt ihr damit anfangen? Habt ihr vor, den Fluss hinunterzufahren?« Der Gedanke, dicht gedrängt auf engem Raum und ohne wirkliche Möglichkeit zur Flucht so offen und vor aller Augen durch die Landschaft zu fahren, behagte ihr gar nicht.
»Also, ich finde die Idee gut«, sagte Pitlit. »Wir suchen nach Menschen? Menschen wohnen da, wo es Wasser gibt, also am Fluss. Wir wollen nach Süden? Bitte, richtige Richtung. Und außerdem treibt uns die Strömung ganz bequem voran. Besser, als wenn wir am Ufer entlanglaufen.«
»Ich bin Pitlits Meinung«, fügte Jonan hinzu. »Noch ein oder zwei Tage ausruhen, während wir uns den Fluss hinuntertreiben lassen, würde uns sicher guttun.«
Carya argwöhnte, dass er mit »uns« vor allem sich selbst meinte, aber sie konnte es ihm nicht verübeln. Im Grunde war sie sogar dankbar dafür, dass er zumindest Anzeichen von Sorge um seine Gesundheit zeigte. Seufzend nickte sie. »Also gut. Überlassen wir uns diesem Bootswrack. Aber wenn wir mitten im Strom plötzlich mit nassen Füßen dasitzen, sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.«
Sie luden ihr Hab und Gut aus dem Einkaufswagen ins Boot und legten diesen selbst auch noch hinein. Dann kletterten sie an Bord und stießen sich mit den Riemen von der Mauer ab. Pitlit ruderte sie in die Mitte des Flusses. Dort ließen sie sich treiben und korrigierten nur gelegentlich mit ein paar Ruderschlägen ihren Kurs.
Den ganzen Tag über fuhren sie den Fluss hinunter. Leere Felder säumten das Ufer, eine trostlose Einöde unter einem grauen Himmel, die Carya ganz trübsinnig machte. Hin und wieder kamen sie an kleinen Siedlungen vorbei, die alle aufgegeben aussahen. Die ersten beiden Male ruderten sie noch ans Ufer, um sich umzuschauen. Danach ließen sie es bleiben. In diesen Ruinen war nichts mehr zu holen.
Am frühen Nachmittag mussten sie ein altes Wehr überwinden, was mit viel Ächzen und Fluchen einherging. Anschließend folgten weitere Kilometer unbewohntes Land.
Es ist alles so einsam,
dachte Carya nicht zum ersten Mal. Sie fragte sich, ob erst der Sternenfall und die Dunklen Jahre diese Gegend so entvölkert hatten oder ob sie schon früher ein dermaßen gottverlassener Flecken gewesen war.
Als es dunkelte, legten sie bei einigen Häusern an, die am Ufer neben einer zerstörten Flussbrücke standen. Pitlit wollte weiterfahren, aber Jonan überzeugte ihn davon, dass es nachts zu gefährlich auf dem Fluss sei. Wenn
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