Das geraubte Paradies
der Eingangstür angekommen, erwarteten Raina und Collet sie schon. Beide machten aber keine Anstalten, anzugreifen. »Eure Sachen sind im Wagen«, sagte Renos Schwester. Ihre Miene wirkte verkniffen, aber in ihren Augen meinte Carya einen Hauch widerwilliger Bewunderung zu erkennen.
»Pitlit, überprüf das«, befahl Jonan dem Straßenjungen.
Der kam der Aufforderung rasch nach und nickte. »Sieht alles gut aus.«
»Na schön«, sagte Jonan. Er ließ Catho los und zog sich rasch zwei Schritte zurück. Carya nickte derweil Reno zu und wedelte mit dem Revolver. »Gehen Sie zu den anderen.«
Schweigend gehorchte er.
Jonan steckte sein Messer weg, zog das Sturmgewehr vom Rücken und entsperrte es mit dem Sicherheitszylinder. Dann griff er in die Munitionsschachtel und lud mit geübtem Griff ein halbes Dutzend Kugeln ins Magazin. »Zumindest für das gute Abendessen schulden wir Ihnen Dank«, sagte er. »Ansonsten kann ich Ihnen nur raten: Gehen Sie mit Ihren nächsten Gästen freundlicher um. Nicht jeder vergibt so leicht, wie wir es tun.«
Mit diesen Worten zogen sie sich in die Nacht zurück. Da sie im Dunkeln den Weg nicht kannten, liefen sie über die Straße zurück, die sie gekommen waren. Jeden Augenblick erwarteten sie, dass sich die Hofbewohner erholen und zur Verfolgung ansetzen könnten. Doch die Nacht blieb ruhig, bis auf den Wind, der durch die Bäume fuhr.
Kapitel 13
Den Rest der Nacht verbrachten sie unter einer Baumgruppe im Freien. Jonan hielt Wache, später ließ er sich von Pitlit ablösen. Mit dem ersten Licht des neuen Tages machten sie sich wieder auf den Weg. Sie verteilten ihre Ausrüstung und trennten sich von dem Einkaufswagen. Anschließend stiegen sie den bewaldeten Hang der Vorgebirgskette empor, um in einem weiten Bogen den Hof und seine vermutlich gerade erwachenden Bewohner zu umgehen.
Bald darauf fanden sie einen kaum noch erkennbaren Pfad, der mitten in die Berge hineinführte, und beschlossen, ihm zu folgen. Sie mussten feststellen, dass er zu einem Netz von Wegen gehörte, die sich kreuz und quer durch Wiesen und über karge Geröllfelder erstreckten und früher offensichtlich als Wanderpfade gedient hatten. Zum Glück besaßen sie Deniers Kompass, der ihnen den Weg nach Südosten wies. Ansonsten hätten sie sich im Geflecht der Pfade, das aufgrund der spärlichen Vegetation so weit oben im Gebirge erstaunlich gut erhalten war, heillos verlaufen.
Zuerst wanderten sie noch an bewaldeten Berghängen entlang. Dann stieg der Weg an, und sie überquerten die Baumgrenze. Niedriges Gras und struppiges Buschwerk säumten von nun an ihren Weg. Die Luft war schneidend kalt und klar, der Himmel schien sich bis zur Unendlichkeit zu erstrecken.
»An diesem Ort könnte man denken, dass es den Sternenfall und die Dunklen Jahre nie gegeben hat«, brach Carya das lange Schweigen, das zwischen ihnen geherrscht hatte. Ihrem Tonfall haftete etwas Andächtiges an.
»Ja, das könnte man«, gestand Jonan. »Und doch kann sich das hinter jeder Hügelkuppe ändern.« Er hatte in den letzten Stunden regelmäßig den Strahlungsmesser hervorgeholt, bislang allerdings keine bedenklichen Werte gemessen. Wenn sie die Schwarze Zone erst erreicht hatten, würde sich das zweifellos ändern.
Gegen Nachmittag kamen sie erst einmal zu einer zweispurigen Fahrzeugstraße, der sie weiter nach Süden folgten. Noch immer hatten sie keinen Pass gefunden, der sie über die Berge zu ihrer Linken führen würde. Langsam begann Jonan zu zweifeln, ob es überhaupt einen gab.
Als es Abend wurde, entdeckten sie im Tal unter sich eine Kleinstadt. Häuser lagen wie Spielzeug verstreut zwischen dichtem Grün. Auf den ersten Blick schien es sich um eine weitere aufgegebene Insel der Zivilisation in der Wildnis zu handeln. Auf einmal jedoch fielen ihnen vielleicht zwei Kilometer entfernt, im westlichen Teil, Lichtquellen ins Auge.
Obwohl es höchst unwahrscheinlich war, dass man sie vom Tal aus sehen konnte, gingen sie sofort hinter einem Gebüsch in Deckung und spähten hinunter auf das Licht inmitten der Häuser. »Wohnen hier wirklich Leute?«, fragte Carya ungläubig.
»Die sollten sich mit den Irren vom Berghof zusammentun«, warf Pitlit ein. »Dann müssten die keine armen Wanderer belästigen.«
Jonan kniff die Augen zusammen. »Vielleicht erhalten wir Antworten, wenn wir uns das Ganze mal aus der Nähe anschauen. Wartet kurz.« Er zog das Templersturmgewehr, das er im Verlauf des Tages komplett geladen hatte, vom
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