Das geraubte Paradies
auch aus anderen Gründen. »Was soll nun eigentlich mit Pitlit und mir geschehen? Wir sind Ihre Gäste, schön und gut. Aber für wie lange? Und was wird aus uns werden?«
»Nun, ich fürchte, das hat der Rat noch nicht endgültig entschieden. Normalerweise haben wir keine Gäste von außerhalb, wie du ja weißt. Dein Freund ist von geringem Interesse für den Rat. Man wird für ihn wahrscheinlich eine Pflegefamilie suchen, damit aus ihm ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft werden kann. Was dich angeht, so würden wir gerne noch einige Untersuchungen vornehmen, um genau zu ermitteln, wie du dich entwickelt hast. Du musst verstehen, dass du von allen Invitros, die wir jemals geschaffen haben, die ungewöhnlichste Lebensgeschichte aufzuweisen hast. Du warst länger im Feld unterwegs als jeder andere. Und du warst dir, wenn ich das recht verstanden habe, während der ganzen Zeit deiner wahren Natur nicht bewusst. Wie hat sich das auf deine Fähigkeiten und deine Psyche ausgewirkt? Auf diese Fragen hätten wir liebend gerne Antworten.« Beschwichtigend hob er eine Hand. »Ich schwöre dir, das Ganze wird für dich nicht schmerzhaft sein. Es sind bloß ein paar Versuchsreihen.«
»Und danach?«
»Das wird sich zeigen, nehme ich an. Du könntest der Zonengarde sehr nützlich sein. Vielleicht wirst du auch wieder ins Feld geschickt, wo wir deine Gaben am besten einsetzen können. Auch wenn ich das persönlich für eher unwahrscheinlich halte. Ich fürchte, so weit wird der Rat dir dann doch nicht trauen.«
»Also ist das Tal jetzt unser Leben?« Carya versuchte, ihre Stimme möglichst neutral klingen zu lassen, um Freeman nicht misstrauisch zu machen.
Der greise Wissenschaftler lächelte. »So sieht es wohl aus. Und glaube mir: Es wird ein gutes Leben sein!«
Kapitel 22
Als Freeman sie eine Stunde später wieder bei ihrer Woh- nung absetzte, hatte Carya sich entschieden. Sie würde nicht zulassen, dass man Pitlit in eine Pflegefamilie steckte, um ihn zu einem
nützlichen Mitglied
der Gemeinschaft zu machen. Und sie würde ihre Zukunft sicher nicht im Dienst der Zonengarde verbringen. Die einzige Chance, ein Leben in Freiheit zu genießen, lag darin, sich mit den Widerständlern um Curzo und Emm zu verbünden. Vor der angedeuteten Prozedur graute Carya zwar noch immer, andererseits mochte es ein erster Schritt zu Freiheit und vollkommener Selbstbestimmung sein, wenn sie ihre Gaben dem Zugriff der Erdenwacht entzog und nur ihrem eigenen Willen unterstellte.
Statt hinauf in ihre Wohnung zu gehen, umrundete Carya den Gebäudekomplex und schritt den schmalen Kiesweg entlang, der sich durch die Grünanlage dahinter zog. Auf den ersten Metern war der Rasen noch gemäht. Einige Bänke luden zum Verweilen ein. Akkurat gestutzte Sträucher sorgten für Abwechslung. Dann erfolgte ein Schnitt in Form einer niedrigen Hecke.
Dahinter erstreckte sich ein Gelände, das halb Park, halb Wildwiese war. Hier wuchsen auch Bäume, und mehrere Wege führten bis hinüber zum einige Hundert Meter weiter beginnenden Berghang. In regelmäßigen Abständen wurden die Hauptwege durch einsame Laternen erhellt, deren Lichtinseln kaum ausreichten, um den dunklen Park zu beleuchten, aber immerhin gute Orientierung ermöglichten.
Carya suchte sich einen kleinen Hügel, auf dem eine Gruppe aus drei Bäumen wuchs, in deren Schatten eine Bank stand. Auf dieser ließ Carya sich nieder. Sie legte den Kopf in den Nacken und blickte zum dunklen Abendhimmel hinauf. Ein beinahe voller Mond hing dort, und sein bleiches Licht erhellte die zerfaserten Wolken, die träge im milden Abendwind dahinzogen. Sterne glitzerten zwischen ihnen in der Schwärze. Es war eine Nacht, die man nicht alleine verbringen sollte. Gegen ihren Willen spürte Carya, wie Trauer sie überkam.
Jonan, ich wünschte, du wärst bei mir. Wo bist du? Ich hoffe, du lebst noch und findest deinen Weg ein drittes Mal zu mir. Ich brauche dich …
Sie spürte ihre Augen feucht werden und wischte sich rasch mit dem Arm darüber. Sie wollte jetzt nicht weinen.
Das Knirschen von Schritten auf dem Weg ließ sie zusammenzucken. Carya senkte den Blick und gewahrte einen Mann, der auf sie zuspazierte. Er hatte die Schultern etwas hochgezogen, und seine Hände steckten in den Hosentaschen. Über seiner Schulter hing ein Beutel. Einen absurden Moment redete Carya sich ein, es handele sich um Jonan, der zu ihr zurückgekehrt sei. Aber schon im nächsten Augenblick erkannte sie ihren Irrtum. Der
Weitere Kostenlose Bücher