Das geraubte Paradies
dem Kopf zusammenbricht.«
Der Straßenjunge warf ihr einen schrägen Seitenblick zu. »Manchmal redest du echt komisches Zeug, weißt du das?«
Sie saßen, an einen umgekippten Baumstamm gelehnt, unten am Flussufer, wo Emm und Ferrer sie wieder abgesetzt hatten, damit es in den Überwachungsaufzeichnungen nicht zu Ortssprüngen ihrer Armbandsignale kam. Damit mögliche Zuhörer ihre Stimmen nicht verstehen konnten, hatten sie die Arme hinter den Rücken geklemmt. Sehr bequem war das nicht, aber lange wollten sie auch nicht mehr bleiben. Der Nachmittag war bereits fortgeschritten, und bald würde Freeman kommen, um Carya zum Abendessen abzuholen.
»Ich weiß wirklich nicht, was ich machen soll«, gestand Carya seufzend. »Auf der einen Seite bin ich ja hierhergekommen, weil ich das ganze Geheimnis meiner Herkunft lüften und diese verschwiegene Gemeinschaft kennenlernen wollte, die mich erschaffen hat. Andererseits habe ich aber auch Angst. Emm und ihre Leute wollen mich verändern.«
»Sie wollen den Sicherheitszylinder rausnehmen«, sagte Pitlit.
»Danke, dass du mich mit einem Templersturmgewehr vergleichst«, versetzte Carya unwillig. Der Vergleich gefiel ihr allerdings vor allem deshalb nicht, weil er im Kern irgendwie der Wahrheit entsprach. Sie war eine Waffe, nur in eine hübschere Hülle verpackt.
»Tut mir leid«, murmelte Pitlit.
»Schon gut. Vergiss es.«
Eine Weile hockten sie schweigend nebeneinander und sahen dem Flusswasser zu, das gemächlich über sein flaches Bett aus Stein strömte.
»Wenn du nicht willst, dass sie diese Experimente an dir durchführen, dann lass es doch«, nahm Pitlit ihr Gespräch wieder auf. »Es zwingt dich doch niemand, dich auf den Untersuchungstisch zu legen.«
»Aber vielleicht sollte ich es tun«, gab Carya zurück, »um etwas zu bewirken. In Arcadion sind wir gescheitert. Wir konnten nur mit knapper Not entkommen, und der Ascherose haben wir eher geschadet als geholfen, die Macht des Lux Dei zu brechen. Gut, in Paris haben wir eine Intrige gegen den Mondkaiser verhindert, aber dadurch zugleich dazu beigetragen, einen Krieg anzuzetteln. Dass wir keine Alternative hatten, weil sonst Alexandre – unter der freundlichen Manipulation von Cartagena – an die Macht gekommen wäre, ist unerheblich. So oder so haben wir erneut die Dinge kaum verbessert.«
»Das stimmt nicht! Wir haben dafür gesorgt, dass der verrückte Prinz keine Kinder mehr in der Trümmerzone jagt«, wandte Pitlit ein.
»Na schön, ein
wenig
haben wir erreicht«, gab Carya zu. »Worauf ich hinauswill, ist das: Die Widerstandsbewegung hier scheint gut organisiert zu sein. Menschen und Invitros ziehen an einem Strang. Außerdem glaube ich, dass auch Magister Milan und Paladin Julion Alecander auf der Seite der Widerständler stehen, beziehungsweise standen, beides anständige Männer. Es scheint sich also um eine gute Sache zu handeln. Vielleicht wäre es deshalb einfach das Richtige, Emm und ihren Freunden zu helfen.«
»Sieh es auch mal so: Was sollen wir sonst machen?«, gab Pitlit zu bedenken. »In unserem Zimmer sitzen und grauselige Musik hören ist ja schön und gut, aber so kommst du nie zu deinen Eltern und ich nie zu Suri zurück. Wenn wir hier rauswollen, brauchen wir diese Widerstandsleute, fürchte ich. Denn alleine schaffen wir es nie über den Pass. Also können wir was Gutes mit was Nützlichem verbinden.«
»Und etwas Gefährlichem«, fügte Carya hinzu.
Der Straßenjunge feixte. »Wäre ja nicht das erste Mal.«
Am frühen Abend wurde Carya wie versprochen von Doktor Freeman abgeholt. Der Höflichkeit halber bot der greise Wissenschaftler auch Pitlit an, sie zu begleiten, doch Carya hatte diesem bereits erklärt, dass es ihr alleine leichter fallen würde, Freeman auszuhorchen, woraufhin der Junge behauptete, er sei zu müde für einen weiteren Ausflug.
Zuerst fuhren sie zum Krankenhaus hinüber, und die Ärzte dort nahmen Caryas Beinmanschette ab. Wie sich herausstellte, war die Schusswunde so gut verheilt, dass Carya bloß mit einem Verband am Bein die Klinik nach einer halben Stunde wieder verlassen durfte.
Als Nächstes führte sie ihr Weg zu dem riesigen Oval, das Carya schon vom Panoramafenster des Krankenhauses aus gesehen hatte. Dieses erwies sich als Anlage, in der die Bewohner des Tals – zumindest die nicht künstlichen – ihre freien Stunden verbrachten. Um diese Uhrzeit hielten sich viele Besucher in dem Oval auf, das mehr Möglichkeiten der Unterhaltung
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