Das Geschenk
die Rückverwandlung des Sichtbaren ins Unsichtbare nennen könnte, eine kindliche Spielerei vielleicht nur, aber eine dem Wahnsinn verwandte Spielart davon, die nur deshalb nicht beunruhigt, weil sie sich selbst heilt. Erst einmal war da weiter nichts als ein von seinem Sohn auf ein Stück Papier gemalter Himmel, ganz in Gelb, und in diese große gelbe Fläche des Himmels malte er eine gelbe Sonne, mit der er sich auch noch richtig Mühe gab, und da hinein malte er gelbe Wolken und gelbe Vögel, viele kleine und große gelbe Vögel, und gelbe Bäume und gelbe Elefanten mit fliegenden gelben Ohren. Jeder, dem Chuck das Blatt später zur Begutachtung vorlegte, sah … ja, was sah er? Er sah nichts! Er sah nichts als eine große, leere, eintönig gelbe Fläche. Und das war noch lange nicht alles. Denn kaum war der gelbe Stift neu gespitzt und der Kinderhand übergeben, vervollständigte sie ihre monochrome Erzählung mit weiteren Details. Es zogen gelbe Gewitterwolken auf am Horizont, da und dort zuckten Blitze, und Regentropfen fielen von unten nach oben, die die Sonne unter Wasser setzten, den Himmel überschwemmten und, man konnte gelb werden vor Neid, was für ein letzter schöner Einfall, die Vögel mit wenigen Strichen eines gelben Stifts dazu brachte, sich im Bauch der Elefanten in Sicherheit zu bringen.
Er sah sich in seiner Erinnerung, ausdauernd wie ein Heiliger, auf seinen Knien auf dem Boden herumrutschen und mit Spielzeug hantieren, mit Dominosteinenund Murmeln und Knetmasse. Ein Vogelhäuschen, das er einmal (mehr schlecht als recht) zusammengezimmert hatte, fiel beim Versuch, es auf dem Balkon an einer Wand zu befestigen, fünf Stockwerke tief in den Hof, wo es nur knapp das Kind eines Nachbarn verfehlte. Der von einem Fehlschlag getroffene, blutunterlaufene Daumennagel war noch nicht wieder verheilt, als sich Chuck an die Konstruktion eines Drachens wagte, den die erste Windbö lachend zerriß. Er versuchte sein Glück als Erfinder von Geschichten (was, wie er wußte, aussichtslos war, da er kein Geschichtenerzähler war, auch als Schriftsteller nicht!) – und kramte stattdessen, weil ihm nicht eine brauchbare Geschichte einfiel, seine Sammlung von Comics hervor, seine kostbaren, noch vom guten alten genialen Carl Barks gezeichneten und längst als Raritäten gehandelten Donald-Duck-Hefte, und machte mit dem Kind, was ein voller Erfolg wurde, einen Ausflug nach Entenhausen, wo ja bekanntlich auch nichts so richtig rund lief.
Wenn einer für Chuck ein Vorbild war, ein Held, dann Donald, die Ente, die berühmteste Ente der Welt. Er dachte an Donald wie an jemand, der wirklich lebt, und hielt ihn für ein Genie, ein Menschengenie. Er sprach darüber sogar einmal auf einer Literaturkonferenz und wurde erst einmal ausgelacht. Er hatte mit einigen anderen seiner Schriftstellerkollegen unter Bildern von Jesus, Thomas Mann und Martin Luther King auf einem Podium gesessen und war bei seiner Wortmeldung zum Thema Helden – im Spiegel der Jahrtausende über D. Duck ins Schwärmen gekommen. Seine Zuhörer konnten nichtglauben, was sie hörten. Dabei war es doch, wie Chuck fand, so einfach wie einleuchtend; und es machte ihm dann auch zunehmend Spaß, der ablehnenden Reaktion des Publikums (ganz donaldesk) die Stirn zu bieten. Wer, fragte er, wer außer Donald Duck, dieser armen, unentwegt vom Pech verfolgten Ente, wäre fähig, so unbeirrt optimistisch allem Unglück dieser Welt zu trotzen, und das mit nichts als seinem Glauben an die Kraft, den nächsten Tag, das Glück des nächsten Tages, den einen kleinen, glücklichen Zufall zu erobern? Woher nimmt diese Ente eigentlich die Kraft, jeden Morgen bei Sonnenaufgang aus dem Bett zu springen, wie immer frisch und munter und unbelehrbar unternehmungslustig – und, als habe es den Totalschaden der vergangenen vierundzwanzig Stunden nie gegeben, keinen Schlamassel, keine Schwierigkeiten, keine Niederlagen, den ganzen kleinlichen Ärger nicht, den neuen Tag zu beginnen? Wenn er morgens aufwache, sagte Chuck, wünsche er sich da nicht wenigstens ein wenig von jener Energie, über die sein unerreichbares Vorbild in so hoher Dosierung verfüge? (Es regten sich erste Anzeichen von Zustimmung!) Donald, der sympathische Versager, Donald, das Stehaufmännchen, Donald, der Held! Wie unermüdlich und ausdauernd er sich abmühe mit all den Tücken seiner alltäglichen Existenz, die, was sonst, mit der aller Menschen dieses Planeten identisch seien. An Donalds
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