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Das Geschenk

Das Geschenk

Titel: Das Geschenk Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Wondratschek
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Schnur mit einer Büroklammer dran als Haken, ködern, an Bord holen, wenn sie angebissen hatten, und über einem fiktiven kleinen Feuerchen braten (endlich etwas, das ihm schmeckte!).
    Wir könnten, schlug er vor, wenn wir morgen einen erwischen, Affenfleisch grillen! Oder Klapperschlangen! Und dann bring ich dir bei, wie man pfeift! Aber morgen, mein Junge, nach einem guten langen Schlaf. Einverstanden?
    Wie vertrauensvoll selig das Kind dann war – und wie neidisch der Vater auf dessen träumerische Wachsamkeit, überhaupt auf die Fähigkeit von Kindern, das Unsichtbare für wirklich zu halten, das Gedachte für real, das Erfundene für reiche Beute. Seine kleine Wohnung glich, wenn die Spiele gespielt und die Geduld und dieKräfte der Spielenden erschöpft und es draußen dunkel geworden war, einer übel zugerichteten Kindertagesstätte, und Chuck war jedesmal, nachdem er das Kind (bis auf eine Schramme am Knie manchmal oder der Neuigkeit, daß eines seiner Zähnchen wackelte) wohlbehalten und, um nur nichts zu riskieren, frisch gewaschen und gekämmt zu Hause abgeliefert hatte, ziemlich sicher, während der ihm gewährten Besuchszeit sein Bestes gegeben zu haben, auch wenn er die letzten Stunden verflucht, immer öfter auf die Uhr geschaut und vieles, was ihm das Temperament des Kindes an Aufmerksamkeit abverlangte, nur noch mechanisch und zerstreut erledigt hatte und zum Schluß kaum noch recht ansprechbar gewesen war. Er spürte es bis auf die Knochen; und im Kopf, der dem quantenschnellen Kombinieren, zu dem Kinder fähig sind, kaum folgen konnte. Was Sinn machte, war Geschwindigkeit; als sei die Begeisterung für alles, was schnell (und folglich besonders aufregend und gefährlich) war, die einzige Wärmequelle, die ihre Körper mit Energie versorgte. Chuck hatte, zurückgekehrt in die eigenen vier Wände, zu tun, sich wieder dem arg gedrosselten Tempo seines gewohnten Lebens anzugleichen. Jedenfalls war das Arbeit, was ihm abverlangt worden war, richtige schweißtreibende Schwerarbeit! Es war Alltag wie Schule (Brote schmieren! Plus Apfel, wie ihm von seiner Mutter aufgetragen worden war!), wie Fußballspielen (Chuck als Tolpatsch, als ulkig komischer Torwart) oder wie, was er wirklich verabscheute, mit ihm in ein städtisches Schwimmbad zu gehen (um sich dort von einem Bademeister anschnauzen zu lassen, der nach einem scharfen Wortwechsel mit Chuck auf eine amtlicheVerordnung verwies und eigenhändig den Stöpsel aus dem aufblasbaren Krokodil, das sie dabeihatten, riß). Er war nicht ohne Grund seit Jahren in keinem städtischen Bad mehr gewesen. Die Menschen sahen dort noch kraftloser, noch hinfälliger aus als sonst, bemitleidenswert, wenn man sie mochte; aber Chuck mochte sie eben nicht – und freute sich schon auf den Tag, wo sie zusammen, nur sie beide und weit und breit keine Menschenseele, in einem See schwimmen würden.
     
    Die Monate vergingen, die Jahre.
    Sein Sohn wurde älter, und Chuck, es war nicht zu leugnen, allmählich alt. Der Unterschied an Jahren war groß, nahezu ein halbes Jahrhundert, eine irgendwie ärgerliche, zumindest ungewöhnliche Zeitspanne. Die falsche Ewigkeit eines langen Lebens! Er kam sich vor wie einer, der eine Zukunft ausspioniert, die es nicht mehr gibt.
    Was war das für eine Art Liebe, die ihn mit dem Kind, dessen Vater er war, verband? Was war das, Vater zu sein? Es ist nichts, dachte er, wenn es nicht da ist, und wenn es da ist, hört es nie mehr auf. Du kannst dich wehren, aber es nützt nichts. Tu, was du willst! Eine bessere Gelegenheit, Fehler zu machen, gibt es nicht. Chuck wußte nicht, wie man, was an der ganzen Sache nie ganz in Ordnung war, ändern konnte. Er wußte es einfach nicht. Sie wußten es beide nicht. Sie sprachen nicht darüber. Es war zu intim. Sie wären verlegen, der Sache den Zahn zu ziehen. Was seine Mutter anging, so war deren offener Widerstand gegen ihn inzwischen weitgehend abgeflaut. Das Gröbste schien ausgestanden. Beide, sie und Chuck, hattensich als zwar getrennt lebende, aber zuverlässige Eltern erwiesen.
    Hunger?
    Nein!
    Wirklich nicht?
    Nicht wirklich!
    Er ging trotzdem schauen. Im Eisschrank lagen ein paar erfrorene Bananen, der Flyer eines Pizza-Schnelldienstes, jede Menge Nahrungsergänzungspräparate, ein ganzer Vorrat davon, und dann, es gab ja sonst nicht viel zu sehen, entdeckte er ganz unten noch etwas, was sich als der zu einem kleinen schwarzen Klümpchen geschrumpfte Kadaver einer Fliege herausstellte. Da war sie

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