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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Axt in der Hand.
    «Was soll das, Reuben?»
    «Leg das neben dich», sagte er. «Ich steige aufs Dach.»
    «Wie willst du das schaffen?»
    «Ich werde versuchen, mich zu verwandeln. Wenn ich es schaffe, gehe ich rauf. Falls du mich brauchst, ruf mich. Ich werde dich hören und verspreche dir, nicht in den Wald zu gehen. Ich lass dich hier nicht allein.»
    Er ging zu den Eichen. Der Regen hatte nachgelassen und tropfte nicht mehr durchs Blätterdach. Durch die Zweige konnte er das hell erleuchtete Küchenfenster sehen.
    Er hob die Arme und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. «Komm schon!», flüsterte er beschwörend. «Los jetzt!»
    Er spannte die Bauchmuskeln an, und der Krampf setzte sofort so stark ein, dass Brustkorb, Arme und Beine wie von Schockwellen erfasst wurden. Seinen Morgenmantel ließ er auf den Waldboden fallen, dann streifte er die Schuhe ab. «Schnell!», flüsterte er. Das Wohlgefühl erfasste seinen ganzen Körper, von unten nach oben, von innen nach außen, und neue Kraft strahlte von seinem Bauch in Brust und Lenden aus.
    Das Fell begann zu wachsen, und er strich es glatt, warf den Kopf zurück und spürte voller Lust, wie schwer seine Mähne war. Dann spürte er, wie er sich in alle Richtungen ausdehnte. Arme und Beine schwollen an, und trotzdem fühlte er sich nahezu schwerelos.
    Um ihn herum schien es heller zu werden. Die Nachtluft erschien ihm schimmernd und leuchtend, die Schatten schwanden, und der Regen tanzte anmutig vor seinen Augen. Der Wald sang sein Lied, und kleine Tiere liefen herbei, als wollten sie ihn willkommen heißen.
    Er sah, dass Laura ihn vom Küchenfenster aus beobachtete. Hinter ihr war es so hell, dass er ihr Gesicht nicht erkennen konnte, aber er sah das Funkeln in ihren Augen.
    Er lief aufs Haus zu, zu der Stelle, an der sich zwei Giebel trafen. Mühelos erklomm er die Hauswand. Über die Dachziegel konnte er mit Leichtigkeit zur glasgedeckten Dachmitte vordringen, die wie ein schwarzer See im diffusen Mondlicht glänzte.
    Er ging auf die Knie, bevor er über das Glas kroch. Der Regen hatte es rutschig gemacht, und er spürte, wie dick es war. Es wurde von zickzackförmigen Eisenträgern getragen. Den Raum oder die Räume, die darunter lagen, konnte er nicht erkennen. Das Glas war getönt, vielleicht auch laminiert und mit Sicherheit gehärtet. In der südwestlichen Ecke fand er die viereckige Einstiegsluke, die er bis jetzt nur vom Satellitenbild des Computers kannte. Sie war größer, als er gedacht hatte, und in einen eisernen Rahmen eingefasst. Einen Griff konnte er nicht entdecken, auch sonst keinen Mechanismus, mit dem sich die Luke öffnen ließ. Sie schien fest versiegelt zu sein.
    Doch wenn er sich nicht gründlich irrte, musste man sie öffnen können. Er suchte alles ab, konnte aber keinen Griff, Hebel oder Knauf finden.
    Ließ sie sich vielleicht nicht nach außen aufziehen, sondern öffnete sich nach innen? Er probierte es mit den Pfoten und drückte auf verschiedene Stellen der etwa einen Quadratmeter großen Luke. Doch nichts geschah.
    Er richtete sich auf und stellte sich mitten darauf. Dann spannte er die Muskeln an und wippte, so kräftig er konnte, und schließlich sprang er auf und ab.
    Plötzlich gab die Luke nach. Er spürte, wie er im Fallen mit dem Rücken an Scharnieren entlangglitt. Im letzten Moment packte er den Rand der Luke über sich mit beiden Pfoten. Es roch nach Holz und Staub, Büchern und Moder.
    Vom Rand der Luke baumelnd, sah er sich um und erkannte die schummrigen Umrisse eines großen Saals. Obwohl er fürchtete, in eine Falle zu geraten, aus der er sich nicht mehr befreien könnte, überwog seine Neugier. Wenn er hinein konnte, würde er es auch wieder heraus schaffen, sagte er sich, und ließ sich auf den Boden fallen. Als er auf einem Teppich landete, hörte er über sich die Luke zufallen, und als er aufschaute, konnte er den Himmel nicht mehr sehen.
    Er war von undurchdringlicher Dunkelheit umgeben. Das Glasdach war so stark getönt, dass das Mondlicht nur zu erahnen war.
    Vor sich ertastete er eine Wand, in die eine Tür eingelassen war. Er fand den Türknauf und drehte ihn. Dann zog er, und die Tür ließ sich öffnen.
    Ohne etwas sehen zu können, schob er sich vor und wäre beinahe eine enge, steile Treppe hinabgestürzt. Sie hatten sich also gründlich geirrt, als sie dachten, dieser Raum sei vom Dachboden aus zu erreichen. Die Pfoten rechts und links an die Wände gelegt, tastete er sich die Treppe hinunter, bis

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