Das Geschenk der Wölfe
niedergelassen», sagte er, «und Wartezeiten, in denen er sich versteckt halten musste, mit solcher Lektüre gefüllt.»
Rechts neben dem Stuhl stand eine halbvolle Weinflasche mit Schraubverschluss auf dem Boden. Es war ein einfacher kalifornischer Wein, kein ganz billiger, aber eben einer mit Schraubverschluss.
Hinter dem Schreibtisch standen einige Lederbände auf einem hohen Regal, bei denen es sich um so etwas wie Haushalts- oder Kontenbücher zu handeln schien. Auf den Buchrücken waren verblasste goldfarbene Jahreszahlen zu sehen. Vorsichtig zog Reuben den Jahrgang 1912 aus dem Regal und schlug das Buch auf. Das robuste, pergamentähnliche Papier war unbeschädigt.
Dieselbe rätselhafte Handschrift, Felix’ Geheimschrift, flüssig und geschwungen, Seite um Seite.
«Ob es wohl diese Bücher waren, auf die er aus war?», fragte Reuben.
«Alles ist so alt», sagte Laura. «Welche Geheimnisse, die heute noch interessant sind, sollten darin verborgen sein? Vielleicht wollte er sich nur etwas holen, das ihm gehörte.»
Sie zeigte auf den langen Tisch mit dem Tischtuch, und Reuben sah die Fußspuren, die zwischen Tisch und Eingang hin- und herführten. Die Fußspuren liefen um den ganzen Tisch.
Plötzlich wusste er, was er dort finden würde. Vorsichtig hob er das Tischtuch an.
«Die Tontafeln», flüsterte er. «Die kostbaren mesopotamischen Tontafeln. Marrok hat sie alle zusammengesucht und hierhergebracht.» Langsam schlug er das Tischtuch zurück, und Reihe um Reihe der magischen Tafeln wurde sichtbar. «Alle intakt», sagte er. «Wahrscheinlich vollzählig. Genau wie Felix es sich wünschen würde.» Aber er fand noch mehr auf dem Tisch: Felix’ Tagebücher. Es waren ein gutes Dutzend, und alle sahen genauso aus wie das erste, das Reuben auf Felix’ Schreibtisch entdeckt hatte. In ordentlichen Viererstapeln lagen sie nebeneinander. «Sieh nur, wie sorgfältig er damit umgegangen ist!»
War es möglich, dass das Geheimnis der Verwandlung von Mensch zu Wolf bis zu antiken Kulturen wie den Uruk und Mari zurückreichte? Aber warum nicht?
Chrisam
–
so bezeichnen wir es seit ewigen Zeiten. Das Geschenk, die Gabe. Es gibt viele Wörter dafür. Doch das tut nichts zur Sache.
Laura ging an der Nord- und der Ostwand entlang und las die Buchrücken in den Regalen, bis sie zu einer schlichten dunklen Tür kam.
Sie wartete, bis Reuben sie öffnete. Der Messingknauf war so alt wie die anderen. Hinter der Tür lag eine zweite mit einem Riegel. Auch sie ließ sich knarrend öffnen.
Dann fanden sie sich in einem der Badezimmer wieder, die in der Hausmitte lagen, in diesem Fall an der Nordseite der Diele. Von innen war die gesamte Tür mit einem goldgerahmten Spiegel verkleidet.
«Ich hätte es wissen müssen», sagte Reuben.
Es musste allerdings noch eine andere Verbindung geben, die ins Obergeschoss führte, und zwar in der südwestlichen Ecke, da war er sich ganz sicher. Der Gang musste zum Schlafzimmer führen, das der erste Felix Nideck benutzt hatte, der Erbauer des Hauses.
Noch einmal machten sie sich auf die Suche und fanden den Zugang in der Tür eines Wäscheschranks, die von Regalen verdeckt war. Die Regale ließen sich leicht entfernen. Gleich daneben lag das Schlafzimmer des alten Felix Nideck.
Sie machten noch mehr kleinere Entdeckungen. Von der Einstiegsluke hing eine Eisentrosse herab, mit der man die Luke von innen zuziehen konnte. Die alten Petroleumlampen im Labor waren alle leergebrannt. In mehreren Tischen waren kleine Spülbecken eingelassen, mit Wasserhähnen und Abflüssen. Unter den Tischen liefen Gasleitungen zu den Bunsenbrennern. Für seine Zeit war das Labor sehr gut ausgestattet gewesen.
In allen vier Ecken befand sich eine Tür, hinter der ein Gang ins Haus führte. Einer endete hinter einem Badezimmerspiegel, genau wie der erste, den sie zusammen entdeckt hatten, der letzte in einem Wäscheschrank im Südosten des Hauses.
«Ich glaube, ich weiß jetzt, was passiert ist», sagte Reuben. «Jemand hat angefangen, hier oben Experimente durchzuführen, um zu ergründen, was es mit der Verwandlung auf sich hat und was dieses Chrisam ist. Wenn diese Morphenkinder tatsächlich nicht oder nur extrem langsam altern, kann man sich vorstellen, welche Bedeutung die modernen Naturwissenschaften für sie hatten, nachdem es Tausende von Jahren nur die Alchemie gegeben hatte. Wahrscheinlich erwarteten sie, große Entdeckungen zu machen.»
«Und warum haben sie damit aufgehört?»
«Das
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