Das Geschenk der Wölfe
riesige Hände und Füße, einen riesigen knochigen Schädel und so weiter. Es gibt Krankheiten, die so ein unnormales Wachstum auslösen. Nur dass dieser Typ eben noch mit diesen zotteligen Haaren bedeckt ist. Er muss so einsam sein wie das Phantom der Oper oder der Elefantenmensch … wie eine Missgeburt, die auf dem Jahrmarkt ausgestellt wird … oder wie Claude Rains in
Der Unsichtbare
. Jedenfalls ist er vollkommen durchgeknallt. Aber eins sage ich Ihnen: Dieser Typ hat Gefühle! Richtig intensive Gefühle. Sie hätten sehen sollen, wie er dastand und Antonio ansah! Er konnte einfach nicht aufhören, ihn anzustarren. Und dann hat er die Hand ausgestreckt, so ungefähr … uuups! Jetzt hätte ich fast die Schläuche rausgerissen.»
«Keine Sorge, es ist ja nichts passiert.»
«Jedenfalls hat er die Hände an den Kopf gelegt, als er Antonio tot daliegen sah, und dann …»
«Hör auf, Stuart!», schrie seine Mutter und rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl herum. «Du musst das alles vergessen!»
«Halt dich da raus, Mom. Ich spreche mit einem Reporter. Das ist ein Interview. Wenn er nicht wissen wollte, was passiert ist mit Antonio und so, dann wäre er gar nicht erst gekommen. Hol mir lieber noch einen Milchshake, okay?»
«Herrgott noch mal!», sagte seine Mutter, dann stöckelte sie aus dem Zimmer. Sie wusste, wie gut sie gebaut war.
«Jetzt können wir Klartext reden», sagte Stuart. «Diese Frau geht mir auf die Nerven. Mein Stiefvater schlägt sie grün und blau, und dann lässt sie ihren Frust an mir aus. Als ob ich was dafürkönnte, wenn er in ihrem Kleiderschrank mit einem Teppichmesser wütet.»
«Woran kannst du dich sonst noch erinnern?», fragte Reuben. «Ich meine von dem Überfall.» Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser lebhafte Junge an dem Chrisam oder sonst etwas sterben würde.
«Wie gesagt, er war unwahrscheinlich stark», sagte Stuart. «Die Angreifer haben auf ihn eingestochen, das hab ich genau gesehen. Voll brutal haben sie auf ihn eingestochen, aber er hat nicht mal gezuckt, sondern sie einfach in Stücke gerissen. Und dann … So was haben Sie noch nicht gesehen, echt, Mann! Das war Kannibalismus!» Stuart schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster, als werde er von Erinnerungen überwältigt. Dann sah er Reuben wieder an und sagte: «Die wollen nicht, dass ich mit der Presse rede, aber davon lass ich mich nicht abhalten. Ich kenne meine verfassungsmäßigen Rechte. Die können mir nicht verbieten, mit der Presse zu reden.»
«Richtig. Was wolltest du mir noch erzählen?»
Plötzlich sah Stuart wie ein Sechsjähriger aus. Tränen schossen ihm in die Augen, und er begann zu weinen.
«Es tut mir wirklich leid, dass dein Freund tot ist», sagte Reuben.
Doch der Junge war untröstlich.
Reuben nahm ihn in den Arm und stand eine ganze Weile so an seinem Bett, bis Stuart sagte: «Wissen Sie, was mir am meisten Angst macht?»
«Was denn?»
«Früher oder später schnappen die den Wolfsmenschen und tun ihm was Schreckliches an, schießen mit Maschinengewehren auf ihn oder erschlagen ihn wie ein Robbenbaby. Keine Ahnung. Auf jeden Fall tun sie ihm furchtbar weh. Für sie ist er kein Mensch, sondern ein wildes Tier. Wahrscheinlich pumpen sie ihn mit Blei voll, wie Bonnie und Clyde, und dann wird man nie erfahren, was der Typ sich dabei gedacht hat oder wer er eigentlich war.»
«Tut deine Hand noch weh?»
«Nein. Aber ich würde auch nichts merken, wenn sie in Flammen stünde. Die haben mir so viele Pillen gegeben …»
«Das kenne ich. Wolltest du mir noch was sagen?»
Die nächste halbe Stunde sprachen sie über Antonio und wie sehr seine Cousins ihn dafür gehasst hatten, dass er schwul war. Stuart hassten sie, weil sie ihn dafür verantwortlich machten, dass er Antonio «umgedreht» hatte. Sie sprachen auch über Stuarts Stiefvater, Herman Buckler, der die Männer dafür bezahlt hatte, Stuart und Antonio zu entführen, zu töten und ihre Leichen zu verstümmeln. Sie sprachen über Santa Rosa, Stuarts Schule und wie toll es sein musste, ein berühmter Strafverteidiger zu sein, wie Clarence Darrow, Stuarts großes Vorbild. Später würde Stuart für die Rechte von Minderheiten, Benachteiligten und Geächteten kämpfen.
Wieder begann Stuart zu weinen. «Das müssen die Medikamente sein», sagte er und rollte sich zusammen wie ein Baby.
Seine Mutter kam mit dem Milchshake zurück.
«Wenn du den auch noch trinkst, wird dir schlecht», sagte sie und knallte den
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