Das Geschenk der Wölfe
das Gefühl habe, dass sie bei der Behandlung des Jungen etwas übersieht … Nun, wir werden sehen.»
«Super, Mom! Du bist die Beste! Aber, sag mal, ist es wirklich erst vier Wochen her?»
Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Hatte sich sein Leben tatsächlich in nur vier Wochen so grundlegend verändert?
«Ja, Reuben. Vor vier Wochen verschwand mein geliebter Sohn, Reuben Golding, und du hast seinen Platz eingenommen.»
«Mom, ich liebe dich. Eines Tages werde ich all deine Fragen beantworten und unsere Probleme lösen.»
Grace lachte. «Na, das klingt ja schon wieder nach meinem Baby!»
Sie beendeten das Gespräch.
Reuben stand vor seinem Wagen, als er plötzlich eine Vision hatte. Er sah, wie er mit seiner Mutter vor dem Kamin in der Diele von Kap Nideck saß und ihr alles erzählte. Es war ein sehr vertrautes Gespräch, und sie war vollkommen einverstanden mit allem, was er ihr zu sagen hatte, steuerte Fachwissen und ihre unvergleichliche Intuition bei.
In der Welt, die er sich vorstellte, gab es keinen Dr. Akim Jaska und auch sonst niemanden. Nur ihn und Grace. Grace wusste und verstand alles. Sie half ihm zu begreifen, was mit ihm geschah, und würde ihn nicht im Stich lassen.
Aber das war reine Phantasie, genauso gut könnte er sich vorstellen, dass sein Bett nachts von Engeln bewacht war, mit Flügeln, so groß, dass sie bis an die Deckenbalken reichten.
Als er sich dieses Mutter-Sohn-Gespräch genauer vorzustellen versuchte, nahm es eine Wendung, die ihm Angst machte. Etwas Bösartiges schlich sich in Grace’ Blick, und ein Schatten legte sich auf ihr Gesicht.
Ein kalter Schauer durchfuhr ihn.
Nein, so würde es nicht sein.
Was er durchmachte, musste geheim bleiben. Außer Laura durfte nur Felix Nideck etwas davon erfahren, niemand sonst. Abgesehen vielleicht von diesem putzmunteren Jungen mit den Sommersprossen und dem frechen Grinsen, der da oben im Krankenbett lag und sich auf so wundersame Art erholte.
Reuben wollte so schnell wie möglich nach Hause, zu Laura, nach Kap Nideck. Noch nie hatte er das Haus so sehr als Zufluchtsstätte empfunden wie jetzt.
Als er ankam, bereitete Laura gerade einen großen Salat zu. Reuben sah ihr an, dass es ihr schlechtging und sie sich Sorgen machte. Ein Baguette, das sie im Ofen aufgebacken hatte, war gerade fertig. Sie setzten sich an den Esstisch und aßen schweigend, und nur das Mineralwasser in ihren Kristallgläsern sprudelte.
«Geht’s dir jetzt etwas besser?», fragte Reuben, nachdem er den größten Salat gegessen hatte, der ihm je vorgesetzt worden war.
Laura nickte. Sie hatte nur kleine Bissen zu sich genommen und zwischendurch immer wieder ihre frischpolierte silberne Gabel betrachtet.
Reuben blickte nachdenklich zum Eichenwald hinüber.
«Stimmt irgendwas nicht?», fragte Laura.
«Nichts stimmt mehr», sagte Reuben. «Ich mag es gar nicht zugeben, aber ich habe den Überblick verloren, wie viele Menschen ich schon getötet habe. Vielleicht sollte ich es mir aufschreiben. Auch wie viele Nächte ich als Wolfsmensch unterwegs war, sollte ich aufschreiben. Überhaupt sollte ich ein Tagebuch anlegen, in dem ich meine Beobachtungen festhalte.»
Seltsame Gedanken machten sich in ihm breit. Er wusste, dass er so nicht weitermachen konnte. Was, wenn er in ein anderes Land ginge, ein gesetzloses Land, wo man das Böse überall in Berg und Tal jagen konnte? Ein Land, wo es niemanden interessierte, wie viele Menschen er tötete und wie oft er des Nachts auf die Jagd ging. Er dachte an große, unübersichtliche Städte wie Kairo, Bangkok und Bogotá, an Länder mit endlosen Wäldern und unberührter Natur.
Nach einer Weile sagte er: «Dieser Junge, Stuart … Ich glaube, er schafft es. Zumindest wird er nicht sterben. Was sonst mit ihm passiert, weiß ich nicht. Ich wünschte, ich könnte mit Felix sprechen. Andererseits knüpfe ich an dieses Gespräch wohl zu viele Hoffnungen.»
«Er kommt ja irgendwann zurück», sagte Laura.
«Ich möchte heute Nacht hierbleiben, im Haus. Ich will mich nicht verwandeln. Oder anders: Wenn es das nächste Mal passiert, möchte ich im Wald allein sein, so wie damals in den Muir Woods, als wir uns kennengelernt haben.»
«Verstehe», sagte Laura. «Du hast Angst, dass du sonst nicht kontrollieren kannst, was du dann tust. Du fürchtest, dass du dich nicht ruhig verhalten und einfach hier im Haus bleiben kannst, wenn es passiert.»
«Ich habe es ja noch nicht mal versucht», sagte Reuben. «Das ist eine
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