Das Geschenk der Wölfe
Schande. Ich sollte mir wirklich mehr Mühe geben. Außerdem muss ich morgen nach Santa Rosa zurück.»
Es begann dunkel zu werden. Tiefblaue Schatten breiteten sich aus und verschluckten den Wald. Wieder begann es zu regnen.
Nach einer Weile ging Reuben in die Bibliothek und rief das Krankenhaus in Santa Rosa an. Eine Krankenschwester sagte, Stuart habe hohes Fieber, sei aber ansprechbar.
Grace schickte eine SMS , dass die letzte Tollwutimpfung mit Dr. Cutler vereinbart sei, morgen um zehn.
Inzwischen war es Nacht geworden.
Reuben betrachtete das Foto der vornehmen Gentlemen über dem Kamin. Waren alle Kreaturen wie er? Trafen sie sich, um gemeinsam zu jagen und ihre Geheimnisse auszutauschen? Oder war Felix der Einzige?
Ich glaube, Felix wurde verraten.
Aber wie? Hatte Abel Nideck es auf Felix’ Besitz abgesehen, vielleicht sogar Geld für Felix’ Beseitigung bekommen, ohne seiner gutgläubigen Tochter Marchent etwas davon zu sagen?
Vergeblich suchte Reuben im Internet nach dem heutigen Felix Nideck. Vielleicht hatte er in Paris eine neue Identität angenommen, von der hier niemand etwas wusste.
In den Spätnachrichten hieß es, Stuarts Stiefvater sei auf Kaution freigelassen worden. Wortkarge Polizisten mussten vor den versammelten Reportern zugeben, dass er auch weiterhin unter Beobachtung bleibe, aber nicht als Tatverdächtiger gelte. Stuarts Mutter plärrte in die Kameras, ihr Mann sei unschuldig.
In der Zwischenzeit hatten sich «Augenzeugen» gemeldet, die den Wolfsmenschen in Walnut Creek, Sacramento und Los Angeles gesehen haben wollten. Eine Frau aus Fresno behauptete, sie habe ihn sogar fotografiert. Ein Pärchen aus San Diego berichtete, der Wolfsmensch habe sie davor gerettet, von einer Bande überfallen zu werden, aber leider hätten sie keinen der Beteiligten gut erkennen können. Auch in der Nähe von Lake Tahoe sollte der Wolfsmensch aufgetaucht sein.
Der Generalstaatsanwalt von Kalifornien hatte eine Task Force zur Verfolgung des Wolfsmenschen zusammengestellt, und eine Gruppe von Wissenschaftlern war mit forensischen Untersuchungen beauftragt worden.
Die Allgegenwart des Wolfsmenschen, hieß es, bedeute aber nicht, dass weniger Verbrechen begangen würden. Das stritten die Behörden entschieden ab. Die Polizei hingegen behauptete das Gegenteil, nämlich dass die Straßen Nordkaliforniens dieser Tage ungewöhnlich sicher seien.
«Schließlich könnte er überall sein», sagte ein Polizist aus Mill Valley.
Reuben ging zum Computer und schrieb seinen Artikel über Stuart McIntyre für den
Observer
. Dabei konzentrierte er sich auf die lebhaften Schilderungen des Jungen. Er erwähnte auch dessen Theorie über eine mysteriöse Krankheit des Monsters, und wie schon früher schloss er mit sehr persönlichen Bemerkungen über moralische Fragen, die der Wolfsmensch aufwarf. Dass dieses Wesen sich anmaßte, Richter und Vollstrecker in einem zu sein, sei etwas, wofür ihn die Gesellschaft nicht als Superhelden feiern dürfe.
Seine gewaltsamen Übergriffe, seine ungezügelte Brutalität können nicht hingenommen werden. Er steht gegen alles, was uns heilig ist, deswegen ist er nicht unser Freund, sondern unser Feind. Dass er wieder ein unschuldiges Opfer vor dem fast sicheren Tod gerettet hat, ist im Grunde nur Zufall. Dafür können wir ihm genauso wenig dankbar sein, wie wir für ein Erdbeben oder einen Vulkanausbruch dankbar sind, nur weil hinterher Rettungsmaßnahmen ergriffen werden. Spekulationen über seinen Charakter, seine Absichten und Motive sind nicht mehr und nicht weniger als das – nämlich reine Spekulationen. Beschränken wir uns also darauf, froh zu sein, dass Stuart McIntyre lebt und in Sicherheit ist.
Es war kein besonders origineller oder durchdachter Artikel, aber Reuben fand, dass er der Situation angemessen war. Das Interessanteste daran war die Schilderung von Stuarts Persönlichkeit – ein allem Anschein nach mit allen Wassern gewaschener, sommersprossiger schwuler Teenager, der fast noch im Kindesalter als
Cyrano de Bergerac
geglänzt hatte und nun, kaum dass er einen beinahe tödlichen Überfall überlebt hatte, der Presse vom Krankenbett aus freimütige Interviews gab. Den «Biss» hatte Reuben nur beiläufig erwähnt, genau wie Stuart, als er Reuben alles erzählt hatte. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung spielte dieser Biss kaum eine Rolle.
Reuben und Laura gingen zu Bett, schmiegten sich aneinander und sahen sich einen französischen Film an,
Weitere Kostenlose Bücher