Das Geschenk der Wölfe
in einem großen Szenario spiele und dass mein Handeln sinnvoll ist.»
Er zupfte Jim am Ärmel. «Steh doch bitte wieder auf, Jim!»
Sie gingen ein Stück tiefer in den Wald, blieben aber in Sichtweite des hell beleuchteten Hauses. Plötzlich blieb Reuben stehen und horchte. Es war unglaublich, was er alles hörte, sobald er den Wald betrat. Er versuchte es Jim zu erklären, aber im Zwielicht konnte er Jims Gesicht nicht erkennen und wusste nicht, ob er ihn verstand.
«Ist es denn richtig, dass ein Mensch diese Dinge hört?», fragte Jim nach einer Weile.
«Wenn nicht – warum höre ich sie dann?»
«Ach, weißt du …», sagte Jim ausweichend. «Es gibt Mutationen … Entwicklungen, die passieren, aber nicht unbedingt willkommen sind.»
Reuben seufzte und blickte in den Himmel. Er sehnte sich nach der Klar- und Weitsicht, die er nur in Wolfsgestalt hatte. Er wollte die Sterne sehen und wieder das Gefühl bekommen, dass unsere Erde nichts als ein Stück glühender Kohle im großen Feuer der endlosen Galaxien war. Diesen Gedanken empfand er als ungeheuer tröstlich. Das Wissen um die Weite des Universums machte es ihm leichter, an Gott zu glauben.
Der Wind fuhr durch die Zweige über ihm. Doch da war etwas, das nicht hierhergehörte. Es war beunruhigend und störte den Abendfrieden. Er hob den Blick und versuchte zu erkennen, ob sich da oben etwas bewegte. Nein, es war zu dunkel für seine Menschenaugen. Dann wurde ihm plötzlich kalt, und seine Haare stellten sich auf.
Da ist jemand, da oben!
Sofort setzten die Krämpfe ein, aber er unterdrückte sie und zwang seine Muskeln, sich wieder zu entspannen. Er schüttelte sich mehr als nötig, um gegen die Kälteschauer anzukämpfen. Obwohl er nichts sehen konnte, hatte er eine Vorstellung davon, was da oben war.
Da oben ist nicht nur einer, es sind mehrere!
«Was hast du denn?», fragte Jim. «Irgendwas nicht in Ordnung?»
«Alles okay», log Reuben.
Plötzlich frischte der Wind auf und rauschte in gewaltigen Böen durch die Bäume, wie ein wilder Schlachtengesang.
«Alles okay», wiederholte Reuben.
Um neun verabschiedeten sich alle. Sie würden San Francisco nicht vor eins erreichen. Grace wollte am nächsten Nachmittag zurückkehren, um sich dafür einzusetzen, dass Stuart noch länger in der Klinik bleiben durfte. Reuben merkte, dass sie vor irgendetwas Angst hatte.
«Weißt du jetzt mehr über dieses Syndrom?», fragte Reuben.
«Nein», sagte sie. «Leider nicht.»
«Ich möchte, dass du in einem Punkt absolut ehrlich zu mir bist, Mom.»
«Ja, natürlich. Worum geht es denn?»
«Um Dr. Jaska.»
«Reuben, ich habe ihn weggeschickt. Er wird sich hüten, jemals wieder in meine Nähe zu kommen.»
«Und Stuart?»
«Er hat keinen Zugang zu dem Jungen. Ich habe Dr. Cutler in aller Deutlichkeit vor ihm gewarnt. Wenn du es für dich behältst, verrate ich dir etwas. Dr. Cutler versucht, eine ärztliche Vormundschaft für ihn zu erwirken, damit sie unabhängig von seinen Eltern mit der Behandlung fortfahren und Entscheidungen für seine Unterbringung treffen kann. Nach Hause kann er nicht, und in seinem Apartment in Haight-Ashbury sollte er jetzt nicht allein sein. So, und jetzt vergiss, was ich eben gesagt habe!»
«Schon geschehen.»
Grace sah Reuben fast verzweifelt an.
Sie hatten viel über Stuart gesprochen, aber nicht über ihn.
Wann hatte seine Mutter je klein beigegeben? Es war das erste Mal, seit Reuben denken konnte. Chirurgen gaben nie auf. Sie glaubten immer, dass noch irgendetwas ging, das lag in ihrer Natur.
Herrgott, wie diese ganze Sache ihr zugesetzt hat, dachte Reuben. Seine Mutter stand auf den Stufen vor der Haustür, blickte in die Ferne und sah kreuzunglücklich aus. Aber als sie wieder Reuben ansah, kehrte das liebevolle Lächeln zurück, das Reuben für sein inneres Gleichgewicht so sehr brauchte. Aber so schnell es gekommen war, verschwand es auch wieder.
«Ich bin froh, dass ihr heute hier wart», sagte Reuben und umarmte sie. «Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr.»
«Ich auch», sagte sie und drückte ihn an sich. «Dir geht es doch gut, mein Baby, oder?»
«Ja, Mom. Ich mache mir nur Sorgen um Stuart.»
Reuben versprach, sie am Morgen anzurufen, sobald er Stuart gesehen hatte.
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33
E in wilder Eber war in den Wald eingedrungen, ein Einzelgänger. Reuben hörte ihn um etwa zwei Uhr nachts. Er hatte gelesen und versuchte sich gegen die Verwandlung zu wehren, aber er war so elektrisiert,
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