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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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dass er mit klopfendem Herzen und schweren Krämpfen aufsprang, sich die Kleider vom Leib riss und in Wolfsgestalt in den Wald lief. Er sprang von Wipfel zu Wipfel, bis er in der Nähe des Tiers war. Dann lief er auf dem Waldboden weiter. Bald hatte er den Eber aufgespürt, ein mächtiges, borstiges Vieh. Reuben schlug die Zähne in seinen Rücken, dann in seinen Hals.
    Es war ein Festmahl. Das Festmahl, das er tagelang so sehr vermisst hatte. Er ließ sich Zeit. Zuerst tat er sich am Bauch des Ebers und den Innereien gütlich. Dann verschlang er das blutende Herz. Die großen weißen Stoßzähne schimmerten in der Dunkelheit. Es war ein massiges Tier. Reuben schwelgte im Genuss des saftigen, würzigen Fleisches.
    Er fraß, bis er müde wurde, dann schlürfte er das Blut. Ihm wurde ganz warm, zuerst in Brust und Bauch, dann sogar in Armen und Beinen.
    Es war himmlisch – der lautlose Regen, der Geruch des Waldbodens und des toten Ebers. Das Tier war so groß, dass er es unmöglich ganz fressen konnte.
    Dann erschütterte ihn ein Schrei. Es war Laura, die im Dunkeln nach ihm rief.
    Er rannte sofort los.
    Sie stand auf der Lichtung hinterm Haus und wurde vom Flutlicht angestrahlt. Sie rief und rief, ließ sich auf die Knie fallen und stieß einen Schrei aus.
    Reuben schoss aus dem Wald auf sie zu.
    «Reuben, Dr. Cutler hat angerufen. Sie kann deine Mutter nicht erreichen. Stuart ist verschwunden. Er hat das Krankenhaus durch ein Fenster im zweiten Stock verlassen, und niemand weiß, wo er steckt.»
    Es war also passiert. Bei Stuart war es noch schneller gegangen als bei ihm selbst. Er hatte sich verwandelt, und er war ganz allein.
    «Mein Zeug», sagte Reuben. «Die großen Sachen. Und welche für den Jungen. Pack alles in den Jeep und fahr Richtung Santa Rosa. Wir sehen uns vor dem Krankenhaus … oder irgendwo in der Nähe, wo ich mich gefahrlos blickenlassen kann.»
    Er lief in den Wald zurück, entschlossen, bis Santa Rosa weiterzulaufen, auch wenn vielbefahrene Straßen und ungeschütztes Grasland auf seinem Weg lagen. Er war sich sicher, dass er auf diese Weise schneller war als auf jede andere und dass er nur so Stuart finden konnte. Er betete zu den Göttern des Waldes oder dem Gott seines Herzens, ihm zu helfen, dass er der Erste sein würde, der auf Stuart traf.
    Über öffentliche Straßen waren es knapp hundertfünfzig Kilometer. Wie lang der Weg querfeldein war, wusste er nicht. Wann immer es möglich war, erklomm er die Baumwipfel, um in der Höhe schnell und ungesehen voranzukommen, am Boden bewegte er sich nur, wenn nötig, aber auch da überwand er jeden Zaun, jede Straße, jedes Hindernis, das seinen Weg kreuzte.
    Er hatte nur einen Gedanken: Stuart zu finden. Diesem Ziel ordnete er alles andere unter, und er mobilisierte seine letzten Kräfte. Noch nie waren seine Wahrnehmung so geschärft, seine Muskeln so stark, seine Energie so zielgerichtet gewesen.
    Der Wald war sein Verbündeter, obwohl hier und da Zweige unter ihm brachen, sodass er krachend ins Unterholz fiel oder weite Sprünge von Ast zu Ast machen musste. Aber anders als in offenem Gelände war er hier geschützt.
    Bald schon wurden die Stimmen des dichtbevölkerten Südens laut, und Menschengeruch mischte sich unter die Aromen des Walds. Das letzte Stück führte ihn durch die baumbestandenen Parks und Gärten von Santa Rosa, wo er sowohl seine menschlichen als auch seine wölfischen Sinne nutzen konnte, um Stuart aufzuspüren. Er achtete auch auf Stimmen, die Stuart angelockt haben könnten, und war bereit, ihnen – falls nötig – zu folgen.
    Es wäre reines Wunschdenken zu hoffen, Stuart sei nicht dem Geruch des Bösen gefolgt. Er musste ihn genauso unwiderstehlich angezogen haben wie Reuben, und genau wie Reuben war er vermutlich so von seiner neugewonnenen Kraft überwältigt, dass er unvorsichtig war und in Gegenden vordrang, wo er entdeckt und gefangen werden konnte.
    Sirenen schrillten durch die Nachtluft, elektronisch verzerrte Stimmen, und das sonst eher verschlafene Santa Rosa wurde mit der Nachricht von einer schrecklichen Gewalttat konfrontiert.
    Reuben erreichte das Krankenhaus, wo er aber keine Spur von Stuart fand. In östlicher Richtung zog er weiter. Dort witterte er Verzweiflung.
    Immer weiter lief er nach Osten, bis sein tierischer Instinkt und sein menschliches Gehirn ihm sagten: Such sein Zuhause auf, denn wo sollte er sonst hingehen? Also machte er sich auf zur Plum Ranch Road.
    Er wird sich so nackt und allein

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