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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Licht des verhangenen Monds schimmerte. Nach und nach verschwand der Mond hinter den Wolken, schien sich dahinter aufzublähen und dann in Milliarden Regentropfen zu zerfallen, die glitzernd auf die Erde fielen.
    Reuben öffnete den Mund und fing den Regen mit der ausgetrockneten Zunge auf. Wieder schnüffelte er nach Wasser, und dieses Mal fand er welches, das sich wenige Meter neben ihnen im dichten Wurzelwerk eines abgestorbenen Baums sammelte. Gierig stürzte Reuben sich darauf und schleckte das köstliche Nass. Dann setzte er sich und ließ Stuart trinken.
    Die einzigen Geräusche waren natürlicher Art und beunruhigten ihn nicht.
    Der Himmel begann aufzuhellen.
    «Was soll denn jetzt werden?», fragte Stuart irgendwann.
    «In etwa einer Stunde wirst du dich zurückverwandeln», sagte Reuben.
    «Hier in der Wildnis?»
    «Es wird Hilfe kommen. Verlass dich ganz auf mich. Aber jetzt sei still und lass mich nach der Person horchen, die kommen wird. Es kann eine Weile dauern.»
    Zum ersten Mal im Leben fürchtete Reuben den Sonnenaufgang.
    Er lehnte sich an den abgestorbenen Baum, horchte und brachte den Wolfsjungen unsanft mit der Pfote zum Schweigen, als der wieder etwas sagen wollte.
    Plötzlich wusste er, wo sie war.
    Obwohl sie nicht in der Nähe war, hatte er ihren Geruch und ihre Stimme vernommen.
O Laura, du bist so klug!
Sie sang das Lied, das er in ihrer ersten Nacht gesungen hatte.
    «Folge mir», sagte er zu Stuart.
    Sie mussten sich wieder auf die Suchmannschaften und das grelle Licht zubewegen. Laura schien zu spüren, dass sie ihrem Ziel nahe war, und fuhr immer schneller. Bald kamen sie an die Straße, auf der sie sich befand.
    Seite an Seite liefen sie am Straßenrand entlang, bis sie den Wagen erreichten. Reuben sprang auf die Motorhaube des Jeeps und hielt sich an Fenster und Windschutzscheibe fest, und Laura bremste scharf.
    Stuart stand wie gelähmt da. Reuben musste ihn mit Gewalt auf den Rücksitz verfrachten.
    «Duck dich», sagte er. Und zu Laura: «Nach Hause, schnell!»
    Laura fuhr sofort los und sagte Stuart, er solle sich unter den Decken, die hinten lagen, verstecken.
    Reuben führte seine Rückverwandlung herbei, lehnte sich erschöpft auf dem Beifahrersitz zurück und ließ die Krämpfe so sanft wie möglich durch seinen Körper pulsieren. Noch nie war es ihm so schwergefallen, die Wolfsgestalt aufzugeben, die Kraft und Gerüche der freien Natur schwinden zu lassen.
    Der Himmel war jetzt rauchig silbern. Der Regen prasselte auf die Felder am Straßenrand. Reuben fürchtete einzuschlafen, doch dafür war jetzt keine Zeit. Er zog Polohemd, Hose und Schuhe an und fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. Seine Haut sträubte sich dagegen, das Fell ganz abfallen zu lassen. Sie vibrierte, als liefe er immer noch durch Wald und Feld.
    Er drehte sich zum Rücksitz um.
    Der Wolfsjunge hatte eine grobe Armeewolldecke über sich gezogen und sah Reuben mit seinen großen blauen Augen an.
    «Sie!», sagte er überrascht. «Sie sind es!»
    «Ja. Ich bin derjenige, der dir das angetan hat», sagte Reuben. «Ich habe das Chrisam an dich weitergegeben. Ich wollte es nicht. Ich wollte bloß die Männer töten, die dich töten wollten. Trotzdem habe ich es getan.»
    Stuart wandte den Blick nicht von ihm ab.
    «Ich habe meinen Stiefvater getötet», sagte er mit seiner tiefen Wolfsstimme. «Er hat meine Mutter wieder geschlagen, sie an den Haaren durchs Haus gezogen. Er hat gesagt, er bringt sie um, wenn sie nicht die Papiere unterschreibt, die mich für unzurechnungsfähig erklären. Ich sollte in ein Heim gesperrt werden. Aber sie wollte nicht. ‹Nein, nein, nein›, schrie sie die ganze Zeit. Ihr Haar war ganz voll Blut. Da hab ich ihn getötet. Und dann in Stücke gerissen.»
    «Verstehe», sagte Reuben. «Hast du dich deiner Mutter zu erkennen gegeben?»
    «Um Gottes willen, nein!»
    Der Jeep raste über die Landstraße und scherte immer wieder links aus, um andere Wagen zu überholen.
    «Wo soll ich hin? Wo kann ich mich verstecken?», fragte Stuart.
    «Überlass das mir», sagte Reuben.
    Unter einem bleiernen Himmel fuhren sie auf dem Highway  101 nach Norden, als Stuarts Rückverwandlung begann.
    Staunend registrierte Reuben, dass es keine fünf Minuten dauerte.
    Der Junge schüttelte sich, senkte den Kopf und stemmte die Ellenbogen auf die Knie. Die blonden Locken fielen ihm übers Gesicht. Er murmelte vor sich hin – lauter abgehackte Silben, die keinen Sinn ergaben. Schließlich sagte er:

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