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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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fühlen, dass er sich dort zu verstecken versucht. Er wird Angst haben und Unterschlupf im Keller oder Dachboden des Hauses suchen, wo er nicht willkommen ist, obwohl es sein Zuhause ist.
    Als Reuben die Einsatzwagen mit eingeschaltetem Blaulicht sah, Feuerwehr- und Krankenwagen, hörte er auch schon die Kakophonie der Stimmen auf dem kleinen Hügel, und der Gestank des Todes stach ihm in die Nase.
    Die schluchzende Frau war Stuarts Mutter, der Tote auf der Trage Herman Buckler. Männer schwärmten aus, um die umliegenden Bäume abzusuchen, und Reuben spürte, dass das Jagdfieber sie gepackt hatte. Der Wolfsmensch! Die Schaulustigen, die sich versammelt hatten, verströmten eine Mischung aus hysterischer Angst und wohligem Nervenkitzel.
    Hunde bellten und knurrten.
    Plötzlich ertönte ein Schuss. Gleich darauf sprach jemand in ein Megaphon: «Nicht schießen! Geben Sie uns Ihre Position an! Nicht schießen!»
    Suchscheinwerfer zuckten über Bäume, Gras und Dächer und ließen Autos in unbeleuchteten Einfahrten aufblitzen, hier und da ging in den Fenstern Licht an.
    Reuben konnte sich nicht näher heranwagen. Hier befand er sich in größerer Gefahr als je zuvor.
    Die Nacht war dunkel, und es regnete stark. Als er das lärmende, blinkende Zentrum des Geschehens umkreiste, konnte er in dem Kontrast von Hell und Dunkel nur sehen, was von den zuckenden Lichtkegeln erfasst wurde.
    Er stieg in die Bäume, so hoch es ging, verhielt sich ruhig und beobachtete die Szenerie. Wenn die Suchscheinwerfer in seine Richtung schwangen, legte er die Pfoten über die Augen, um sie vor der Helligkeit zu schützen.
    Der Krankenwagen fuhr wieder ab. Das Weinen der Mutter verlor sich in der Ferne. Langsam durchstreiften Polizeiwagen die Gegend in allen Richtungen. Veranda- und Gartenlampen wurden eingeschaltet und ließen Swimmingpools und gepflegte Rasenflächen sichtbar werden.
    Immer mehr Wagen kamen angefahren und parkten auf dem Hügel.
    Reuben musste die Gefahrenzone verlassen und weitere Kreise ziehen. Er wollte sich gerade aufmachen, als ihm etwas einfiel: Er konnte Stuart ein Signal geben, denn er konnte hören, was Menschen nicht hören konnten. Mit seiner tiefen Stimme rief er Stuarts Namen. «Ich suche dich», rief er. «Komm zu mir, Stuart!» Kehlig und rau kamen die Silben aus seinem Mund, so tief und vibrierend, dass die Töne für menschliche Ohren nicht wahrnehmbar waren. «Komm, Stuart! Komm zu mir! Vertraue mir! Ich suche dich, Stuart. Ich bin dein Bruder. Komm her!»
    Hunde schienen ihm zu antworten, jedenfalls bellten sie lauter als zuvor, und in dem ansteigenden Lärmpegel der Einsatzfahrzeuge rief auch er lauter.
    Langsam bewegte er sich weiter nach Osten, weg vom Zentrum des Geschehens. Bestimmt war der Junge klug genug, um das Gleiche zu tun. Im Westen lagen die bevölkerungsreichen Wohnviertel von Santa Rosa, im Osten der Wald.
    «Komm, Stuart! Komm zu mir!»
    Durch das Blattwerk vor ihm sah er ein Augenpaar aufblitzen.
    Er sprang los und rief noch einmal den Namen des Jungen.
    Dann hörte er ihn weinen. «Bitte, bitte, hilf mir!»
    Reuben streckte den rechten Arm aus, griff nach dem Wolfsjungen, nahm ihn in den Arm und staunte, als er sah, dass er genauso groß war wie er selber. Zusammen liefen sie weiter in den Wald, und Reuben merkte, dass der Wolfsjunge auch genauso stark und schnell war wie er.
    Sie liefen immer weiter, bis sie in ein abgelegenes Tal kamen, das völlig im Dunkeln lag. Dort blieben sie stehen. Zum ersten Mal fühlte sich Reuben unter dem Wolfsfell erhitzt und lehnte sich keuchend an einen Baum. Durstig schnupperte er nach Wasser. Der Wolfsjunge wich ihm nicht von der Seite, als fürchtete er sich ohne ihn.
    Er hatte blaue Augen. Groß und neugierig blickten sie aus einem dunkelbraunen Wolfsgesicht, das Reubens ähnelte. Am Hals hatte er weiße Streifen. Stumm sah er Reuben an, fragte und forderte nichts, sondern vertraute ihm wortlos.
    «Ich bringe dich hier weg», sagte Reuben mit seiner Wolfsstimme, und Stuart antwortete mit einer ganz ähnlichen Stimme: «Ich bleibe bei dir.»
    Schnell stiegen sie weiter ins Tal hinab und schlugen sich ins dichte Farnkraut. Dort blieb Reuben stehen und umarmte den Wolfsjungen erneut.
    «Hier sind wir sicher», sagte er leise. «Lass uns ausruhen.»
    Es kam Reuben vollkommen natürlich vor, einen Artgenossen an seiner Seite zu haben mit seinen starken, behaarten Schultern, dem seidigen Fell auf seinen Armen und der gewaltigen Mähne, die jetzt im fahlen

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