Das Geschenk der Wölfe
Reubens Name gerufen. «Mr. Golding! Mr. Golding!» Es wurde an Hinter- und Vordertür gerüttelt.
Der Wind strich ums Haus, und Regen trommelte leise an die Fenster.
Reuben ging die Treppe ein paar Schritte hinunter.
Plötzlich musste er an den Lärm denken, von dem er in Marchents Todesnacht aufgewacht war. Wir wohnen in einem Glaspalast, dachte er. Es ist ganz leicht, hier einzubrechen.
Er sah sich zu Stuart um. Barfuß, in Boxershorts und T-Shirt schlief er wie ein Kind.
Galton war gekommen. Reuben hörte, wie er dem Sheriff etwas zurief.
Er ging ins Schlafzimmer zurück und trat an das Fenster, das nach Süden zeigte.
Galton sagte: «Ich weiß nicht, wo sie sind. Sie sehen ja selbst, dass beide Wagen da sind. Was soll ich sagen? Vielleicht schlafen sie noch. Erst gegen Morgen habe ich sie die Straße hochkommen sehen. Vielleicht erzählen Sie mir erst mal, was das Ganze hier soll?»
Aber niemand wollte Galton aufklären. Der Sheriff, die Polizisten und selbst die Sanitäter standen mit verschränkten Armen da und sahen zum Haus herauf.
«Ich kann Sie ja anrufen, wenn die beiden aufgestanden sind», sagte Galton. «Ja, ich weiß, wie man die Alarmanlage ausschaltet, aber ich bin nicht befugt, jemanden reinzulassen. Hören Sie …»
Geflüster. Dann: «Na gut, dann warten wir eben.»
Warten
–
worauf?
«Weck Stuart!», sagte Reuben zu Laura. «Und bring ihn in die Geheimkammer. Schnell!»
Er zog seinen blauen Blazer über und kämmte sich. Was immer als Nächstes geschah – er wollte sich respektabel präsentieren.
Sein Handy summte. Eine SMS von Jim: «Sind unterwegs.»
Was hatte das zu bedeuten?
Reuben hörte Stuart schlaftrunken protestieren, aber Laura ließ nicht locker und führte ihn zu dem Wäscheschrank mit der Geheimtür.
Als sie verschwunden waren, prüfte Reuben die Tür. Sie war nicht zu erkennen. Er schob die Regale wieder davor und legte Handtücher hinein. Dann schloss er den Wandschrank.
Er schlich die Treppe hinunter und durch den dunklen Hausflur in die Diele. Die einzige Lichtquelle war der Wintergarten. Der Regen tröpfelte auf das Glasdach. Die gläsernen Wände waren beschlagen.
Jemand drehte am Knauf der westlichen Tür.
Wieder kam ein Wagen vorgefahren, es klang nach einem Lastwagen. Reuben wollte die Vorhänge nicht bewegen und beschränkte sich aufs Horchen. Eine Frauenstimme. Dann Galton, der laut in sein Handy sprach.
«Am besten kommst du gleich her, Jerry. Hier ist die Hölle los. Die haben keinen Durchsuchungs- oder Haftbefehl, aber wenn die sich trotzdem Zugang verschaffen wollen, dann … Also, jedenfalls kommst du am besten gleich her.»
Reuben schlich sich zum Schreibtisch und warf einen Blick auf die Betreffzeilen der eingegangenen E-Mail-Flut.
« SOS » hieß es bei Celeste immer wieder. Billies E-Mails firmierten unter «Warnung». Phil schrieb: «Unterwegs». Die letzte von Grace lautete: «Fliege mit Simon ein». Sie war zwei Stunden alt.
Das also hatte Jim gemeint. Wahrscheinlich kamen sie am Flughafen von Sonoma County an und fuhren dann mit einem Wagen weiter.
Wie lange würden sie dafür brauchen?
Immer mehr Wagen fuhren vor.
Die letzte E-Mail von Billie war vor einer Stunde gekommen: «Sie kommen dich abholen und wollen dich wegsperren!»
Reuben wurde wütend, versuchte aber, einen kühlen Kopf zu behalten, und dachte nach. Was war passiert? Hatte jemand sie gesehen, als sie mit Stuart hergekommen waren? Galton hatte bestimmt nicht geplaudert. Und selbst wenn – das erklärte nicht, warum gleich eine so große Maschinerie angelaufen war.
Am rätselhaftesten war der Krankenwagen. Wer hatte den geschickt – und warum? Steckte Dr. Cutler dahinter? Hatte sie die ärztliche Verfügungsgewalt über Stuart erhalten? Wollte sie ihn in die Psychiatrie oder sonst eine geschlossene Anstalt bringen? Es war doch ihre Stimme, die Reuben da draußen hörte, oder? Da war aber noch eine andere Frauenstimme, eine mit ausländischem Akzent.
Er verließ die Bibliothek und ging über den dicken Perserteppich in der Diele zur Haustür.
Die Frau mit dem fremden Akzent – vielleicht eine Russin – erklärte, dass sie sich mit solchen Dingen auskenne. Wenn die Polizei kooperiere, werde alles gutgehen. Bislang sei es immer gutgegangen. Ein Mann mischte sich ein und unterstützte sie.
Jaska!
Reuben konnte ihn riechen. Auch die Witterung der Frau nahm er jetzt auf.
Lügner, alle beide!
Ausgeprägte Bösartigkeit.
Reuben spürte, wie die Krämpfe
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