Das Geschenk der Wölfe
Vorderasien zeigen wollte.» Er seufzte. Dann fuhr er fort: «Dieser Durrell war ein Meister der schönen Worte und hat uns am Telefon das Blaue vom Himmel versprochen. Also sind wir alle nach Paris gereist, wo er uns in ein kleines Hotel am linken Seine-Ufer eingeladen hatte.»
«Die Falle musste in einer großen, belebten Stadt zuschnappen, verstehen Sie?», sagte Thibault und räusperte sich. Sein Bariton klang sonor wie immer, aber es war zu hören, dass diese Erinnerungen ihn nicht kaltließen. «Es musste an einem Ort passieren, wo unsere Sinne so sehr von Geräuschen und Gerüchen überflutet waren, dass wir nicht oder zu spät merkten, wer sich uns da näherte. Außer Sergej wurden wir alle betäubt. Er konnte fliehen und hat uns all die Jahre gesucht.»
Thibault sah Felix an, der ihn mit einer Handbewegung ermunterte weiterzusprechen.
«Kurz darauf stellte die Sowjetregierung die Zahlungen an Durrells und Klopows Team ein. Wir wurden aus Russland geschmuggelt und in ein Beton-Gefängnislabor in der Nähe von Belgrad verlegt. Da ging dann der Konkurrenzkampf zwischen den beiden los, und für uns ging es ums nackte Überleben.» Von Erinnerungen überkommen, schüttelte er den Kopf. «Ehrlicherweise muss man Philippe Durrell zugestehen, dass er brillant war.»
«Das waren sie alle», sagte Felix. «Auch Klopow, Jaska und die anderen. Sie kannten Einzelheiten aus unserer Vergangenheit, über die wir nur staunen konnten. Außerdem hatten sie Kenntnisse auf Gebieten, über die andere Wissenschaftler nicht einmal zu spekulieren wagen.»
«Ich weiß», sagte Reuben. «Meine Mutter war von Jaska anfangs ziemlich beeindruckt. Aber sie hat relativ bald Verdacht geschöpft.»
«Ihre Mutter ist eine bemerkenswerte Frau», sagte Felix. «Sie scheint sich ihrer Schönheit gar nicht bewusst zu sein, als sei sie ein körperloses Wesen, das nur aus geistiger Aktivität besteht.»
Reuben lachte. «Sie möchte ernst genommen werden.»
«Nur zu verständlich», sagte Thibault. «Gut, dass sie Philippe Durrell nicht kennengelernt hat. Er hätte sie noch stärker beeindruckt. Er hatte großen Respekt vor uns und war ernsthaft an allem interessiert, was er über uns in Erfahrung bringen konnte. Als wir uns weigerten, unsere Wolfsgestalt anzunehmen, hat er geduldig gewartet, und als wir uns weigerten, ihm irgendetwas über uns zu erzählen, hat er uns in lange Gespräche verwickelt und darauf gehofft, dass uns doch etwas herausrutscht.»
«Ja, er hat uns ernst genommen», sagte Felix. «Und er wollte unbedingt wissen, was wir von der Welt gesehen hatten.»
Reuben selbst hätte das nur zu gern erfahren.
Thibault fuhr fort: «Er behandelte uns wie kostbare Exemplare einer seltenen Spezies, verwöhnte und beobachtete uns permanent. Klopow hingegen war ungeduldig und anmaßend, bis sie regelrecht brutal wurde und sich wie jemand benahm, der einem Schmetterling die Flügel abreißt, um ihn besser untersuchen zu können.» Die aufkeimenden Erinnerungen schienen ihm zuzusetzen. «Sie war wild entschlossen, unsere Verwandlung herbeizuführen, und als es eines Tages tatsächlich passierte, stellten wir fest, dass wir selbst in Wolfsgestalt nicht fliehen konnten, weil unser Gefängnis solider gebaut war, als wir gedacht hatten, und die Wachen zu zahlreich. Danach haben wir uns nie wieder verwandelt.»
«Sie müssen wissen, dass man das Chrisam nicht einfach aus uns herausholen kann», setzte Felix die Schilderung fort. «Weder mit einer Spritze noch durch eine Speichelprobe oder dergleichen. Die spezifischen Zellen werden binnen kürzestem inaktiv und zerfallen schließlich ganz. Das wusste ich von meiner eigenen Forschung, obwohl mir zu Beginn des wissenschaftlichen Zeitalters nur primitive Methoden zur Verfügung standen. Später konnte ich die Ergebnisse von damals in meinem Labor hier im Haus bestätigen. Unsere Vorfahren wussten es auch schon. Sie hatten zwar noch keine Beweise dafür, aber das heißt nicht, dass sie dumm waren. Schließlich waren wir nicht die ersten Morphenkinder, die man hinter Schloss und Riegel sperrte, weil man ihnen das Chrisam abzapfen wollte.»
Reuben fuhr es kalt den Rücken herunter. Als er – es schien Jahre her zu sein – das erste Mal zu Jim gegangen war, um die Beichte abzulegen, hatten ihm all diese Möglichkeiten vor Augen gestanden – Gefangenschaft, Zwangsuntersuchungen und womöglich noch Schlimmeres.
«Um aber auf die Gegenwart zurückzukommen …», sagte Felix. «Selbst wenn man
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