Das Geschenk der Wölfe
sehr schnell arbeitet, kann man das Serum einem anderen Organismus nicht auf künstlichem Wege übertragen. Verschiedene Stoffe müssen zusammenwirken, um das Chrisam weiterzugeben. Deswegen bleibt sogar der Biss von Morphenkindern meist folgenlos. Wir wissen ganz genau, um welche Wirkstoffkombination es geht und dass man uns nicht zwingen kann, davon etwas abzugeben, auch nicht in Wolfsgestalt.»
«Richtig», pflichtete Thibault dem alten Freund bei. «Deswegen ist es wahrscheinlicher, dass ein Gebissener stirbt. Denn selbst wenn wir so manipuliert werden, dass wir uns gegen unseren Willen verwandeln, und man uns dann einen Köder vorsetzt, dem wir das Chrisam übertragen sollen, können wir ihm den Kopf abreißen, und das ist dann das Ende des Experiments.»
«Verstehe», sagte Reuben. «Ich habe selbst schon darüber nachgedacht, was in so einem Fall zu tun ist. Trotzdem kann ich mir kaum vorstellen, was Sie erleiden mussten. Aber es ist etwas, womit wir wohl rechnen müssen.»
«Stellen Sie sich vor, jahrelang isoliert zu werden», sagte Felix. «In eiskalten Zellen, die Tag und Nacht in völliger Dunkelheit liegen. Man lässt Sie hungern, beschimpft und bedroht sie. Psychische Folter, indem man ihnen immer wieder den Eindruck vermittelt, Ihre Kameraden seien tot … Eines Tages werde ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen, wenn Sie daran interessiert sind. Aber lassen Sie uns auf den Punkt kommen. Wir haben nicht nur unsere Verwandlung verweigert, sondern jede Form der Kooperation. Auch wenn man uns Drogen gab oder uns folterte, blieben wir standhaft. Schon lange vorher hatten wir uns beigebracht, uns in einen Bewusstseinszustand zu versetzen, der uns gegen Angriffe dieser Art immun macht. Irgendwann verlor Klopow die Geduld – mit uns, aber auch mit Durrell, der eher an endlosen Gesprächen über das Mysterium der Morphenkinder und unserer Philosophie interessiert war.»
Felix sah Thibault an, damit der weitererzählte.
Thibault nickte widerstrebend und sagte: «Klopow ließ Reynolds Wagner, unseren Freund und Mitgefangenen, auf einen Operationstisch schnallen, und dann begann sie mit ihrem Team, ihn bei lebendigem Leibe zu sezieren.»
«O mein Gott!», flüsterte Reuben entsetzt.
«Wir wurden gezwungen, per Videoübertragung in unseren Zellen zuzuschauen», fuhr Thibault fort. «Eine detaillierte Schilderung möchte ich uns allen ersparen. Fakt ist, dass Reynolds der Tortur nicht standhielt. Blind vor Wut, verwandelte er sich, obwohl er das gar nicht wollte. Er tötete drei Ärzte und beinahe auch Dr. Klopow, aber gerade noch rechtzeitig schossen sie und die anderen Überlebenden Reynolds in den Kopf und zerstörten sein Gehirn. Aber er hörte immer noch nicht auf. Halbtot fiel er einen Assistenten an. Dann hat Klopow so lange auf seinen Hals geschossen, bis er praktisch enthauptet und von seinem Hals nichts mehr übrig war. Dann durchtrennte sie ihm die Wirbelsäule, und Reynolds ging tot zu Boden.» Thibault schloss die Augen und massierte sich die Nasenwurzel.
«Sie hatte uns schon länger den Tod angedroht», sagte Felix. «Aus unseren Leichen glaubte sie wertvolle Erkenntnisse gewinnen zu können, und der Einzige, der sie bislang davon abgehalten hatte, war Durrell.»
«Ich kann mir schon denken, was dann passierte», sagte Reuben.
«Ich weiß», sagte Felix. «Sie haben es mit eigenen Augen gesehen.» Er lehnte sich zurück und starrte auf den Tisch. «Wie Sie von Ihrer Begegnung mit Marrok wissen, löste Wagner sich vor unseren Augen auf.»
«Klopow und die anderen versuchten verzweifelt, seinen Zerfall zu stoppen», sagte Thibault. «Aber sie konnten nichts dagegen tun. Da begriffen sie, dass wir ihnen tot nichts nützten. Um die Zeit etwa beschloss Vandover, sich das Leben zu nehmen. Jedenfalls machte er Klopow das glauben. Also griffen sie notgedrungen auf Durrells Methode zurück und versuchten, uns mit endlosen Gesprächen zu ermüden und unseren Widerstand zu brechen. Seit der Sache mit Wagner hasste Durrell Klopow, aber ohne sie war er aufgeschmissen, und er hatte nicht die Macht, sie von dem Projekt abziehen zu lassen. Zusammen mit Jaska hatte sie alles im Griff, und seit dem Tod der anderen drei Ärzte war ihre Position noch gefestigter. Es war furchtbar, aber irgendwie gelang es uns, das alles zu überleben.»
«Zehn lange Jahre?», sagte Reuben fassungslos. Er konnte sich das Elend vorstellen, als wäre er dabei gewesen.
«Zehn lange Jahre», bestätigte Felix. «Immer
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