Das Geschenk der Wölfe
Frage des Kontextes», hörte Reuben ihn zu Laura sagen. «Und das meine ich jetzt nicht relativistisch. Aber zu ignorieren, in welchem Kontext eine bestimmte Entscheidung getroffen wird, ist per se amoralisch.»
«Wie wären dann unveränderliche Wahrheiten definiert?», fragte Laura. «Ich verstehe, was Sie meinen, aber mir leuchtet nicht ein, was moralisches Handeln in einem ständig veränderlichen Kontext ausmacht.»
«Der Schlüssel ist die Anerkennung der genauen Umstände, unter denen moralische Entscheidungen gefällt werden», sagte Thibault.
Die ersten Gäste begannen zu gehen.
Die letzten Zeugenbefragungen waren abgeschlossen, und der Sheriff gab bekannt, die Suche nach dem Wolfsmenschen in der näheren Umgebung sei vorerst beendet. Außerdem habe er gerade erfahren, Jaska und Klopow würden im Zuge polizeilicher Ermittlungen in Deutschland und Frankreich von Interpol gesucht.
In der Nähe von San Jose hatte jemand sehr gute Fotos von dem Wolfsmenschen gemacht. «Auf mich wirken sie echt», sagte der Sheriff mit Blick auf sein iPhone. «Es ist unsere Bestie. Sehen Sie selbst! Die Frage ist nur, wie dieses Vieh in so kurzer Zeit so weit kommen konnte.»
Die Spurensicherung rief an und sagte, der Tatort könne wieder freigegeben werden.
Bald herrschte allgemeiner Aufbruch.
Reubens Familie hatte ein Flugzeug gechartert, das auf sie wartete. Reuben begleitete seine Mutter zur Tür.
«Die Freunde der Nidecks waren eine große Hilfe», sagte Grace. «Dieser Felix hat es mir besonders angetan. Zuerst dachte ich, Arthur Hammermill sei heimlich verliebt, als er von dem Mann regelrecht ins Schwärmen kam, aber jetzt verstehe ich ihn.»
Zärtlich küsste sie Reuben auf beide Wangen.
«Begleite Stuart bitte ins Krankenhaus, wenn Dr. Cutler ihm seine Spritzen gibt.»
«Natürlich, Mom. Ich betrachte ihn als meinen kleinen Bruder.»
Grace sah ihn nachdenklich an.
«Denk nicht andauernd über die offenen Fragen nach, Mom», sagte Reuben. «Du selbst hast mir beigebracht, dass man mit offenen Fragen einfach leben muss.»
«Hast du Angst, dass ich mir Sorgen mache, Reuben? Ich muss dir gestehen, dass dieser Abend auf gewisse Weise eine Befreiung für mich war. Natürlich war es schrecklich, und ich möchte so etwas nicht noch einmal erleben. Aber eines Tages werde ich dir sagen, was meine eigentliche Befürchtung war.» Müde schüttelte sie den Kopf. «Die Medizin verblüfft heute manchmal die rationalsten Menschen. Als Arzt sieht man tagtäglich die unerklärlichsten und unglaublichsten Dinge. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin.» Sie zögerte, als wollte sie sich näher erklären, doch dann sagte sie nur: «Chirurgen können genauso abergläubisch sein wie alle anderen.»
Schweigend gingen sie zu dem wartenden Wagen.
Reuben umarmte Jim und versprach, ihn bald anzurufen. «Ich weiß, was für eine Last du mit dir herumträgst», flüsterte er ihm ins Ohr. «Ich mute dir eine Menge zu.»
«Hast du jetzt das ganze Haus voll von diesen Kreaturen?», fragte Jim. «Wie soll es weitergehen, Reuben? Wo willst du hin? Gibt es einen Weg zurück? Heute Abend haben sie alle perfekt getäuscht, aber wie lange kann das gutgehen?» Im nächsten Moment bereute er, was er gesagt hatte, und umarmte Reuben noch einmal.
«Die Ereignisse von heute haben mir erst mal Zeit und Luft verschafft», sagte Reuben.
«Ich weiß. Und ich gönne es dir, Reuben. Ich möchte nicht, dass dir jemand weh tut, dass du gefangen oder verletzt wirst. Aber ich weiß nicht, was ich für dich tun kann.»
Einige Polizisten machten immer noch Fotos, und der Sheriff ermahnte sie: «Aber nichts privat bei Facebook posten!»
Es schien ewig zu dauern, bis alle gegangen waren.
Dr. Cutler war die Letzte. Sie hatte noch einmal nach Stuart sehen wollen, aber schließlich eingesehen, dass man den Jungen nach allem, was er durchgemacht hatte, nicht wecken sollte. Seine Mutter sollte noch einige Tage im Krankenhaus bleiben. Reuben versprach der Ärztin, dass er Stuart begleiten würde, wenn er sie besuchte. Sie solle sich keine Sorgen machen.
Phil umarmte Reuben unbeholfen. «Ich warne dich, mein Sohn: Eines Tages stehe ich unangemeldet mit einem Köfferchen vor der Tür.»
«Das wäre schön», sagte Reuben. «Ein Stück weiter in Richtung der Klippen steht ein Gästehaus mit wunderbarem Meerblick. Es muss grundrenoviert werden, aber es wäre ideal für dich. Du könntest Tag und Nacht Schreibmaschine schreiben, ohne
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