Das Geschenk der Wölfe
schenkte ihm etwas ein. Königlicher Mundschenk.
Felix und Thibault sahen Margon geduldig an. Laura hatte sich auf ihrem Stuhl so hingesetzt, dass sie ihn ansehen konnte, ohne den Kopf zu drehen. Auch sie wartete geduldig ab, ob und wann er weitersprechen würde.
Nur Stuart konnte nicht warten. «Welche Stadt war es?», fragte er. «Kommen Sie schon, Margon, erzählen Sie!»
Felix schüttelte den Kopf und sah ihn streng an.
«Schon gut. Es ist doch ganz natürlich, dass er es wissen will», sagte Margon. «Denkt nur an diejenigen, die nicht neugierig waren, die nichts von der Vergangenheit wissen wollten. Ihnen wäre es besser ergangen, wenn sie ihre eigene Geschichte und die ihrer Ahnen gekannt hätten.»
«Ich will alles wissen», sagte Stuart leise.
«Dabei bin ich mir gar nicht sicher, ob du wirklich schon verstanden hast, was ich bislang gesagt habe», sagte Margon.
Das ist das Problem, dachte Reuben. Wie sollte man auch wirklich verstehen, dass der Mann, der da vor einem saß, schon seit Anbeginn der Menschheit am Leben war?
«Nun, ich werde hier jetzt nicht die ganze Chronik der Morphenkinder ausbreiten», sagte Margon. «Aber einiges werde ich euch erzählen. Es genügt, wenn ihr wisst, dass ich verstoßen wurde und in die Fremde ziehen musste. Ich hatte mich geweigert, mich als Gottessohn zu bezeichnen, wie es für die Könige unseres Landes üblich war. Stattdessen habe ich mich auf die Kräfte besonnen, die uns selber innewohnen. Das war gar nicht so radikal und abtrünnig, wie es jetzt vielleicht klingt. Viele haben das getan. Aber man durfte es nicht laut sagen.»
«Sie sprechen von Uruk, stimmt’s?», fragte Stuart.
«Nein, es war lange vor Uruk», erwiderte Margon. «Lange vor Eridu, Larsa und Jericho oder jeder anderen Stadt, die du benennen könntest. Die Überreste meiner Stadt liegen unter Sand begraben. Noch hat niemand sie gefunden. Nicht einmal ich weiß, was mit ihr und meinen Nachfahren geschehen ist oder ob Städte, die seither in der Nähe entstanden, ihr Erbe verkörpern. Ich weiß auch nicht, was mit ihren Handelsniederlassungen außerhalb der Grenzen geschah. Dort wurde mit Tieren, Sklaven und allerlei Waren gehandelt, außerdem dienten diese Außenposten des Reichs zugleich als Aushängeschild für unsere Lebensart. Wir haben unsere Kultur sozusagen exportiert. Doch ich weiß nicht, was daraus geworden ist – aus den Orten und unserer Kultur. Ich war schließlich nicht dabei, sondern hatte alle Hände voll damit zu tun, mein eigenes Überleben zu sichern, und war dem Untergang oft genug sehr nahe.»
Inzwischen hatte er sich warmgeredet, und die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus.
«Ich sah mich nicht als jemand, der vom Schicksal oder durch Zufall an den Beginn eines Lebens gestellt worden war, das die Jahrtausende überdauern sollte. Wie hätte ich das auch ahnen sollen? Vielmehr habe ich all die Kräfte unterschätzt, die ich mir angeeignet habe. Dabei ist es eine Laune der Natur, dass ich überhaupt überlebt habe. Deshalb rede ich nicht gern darüber.»
Als er dieses Mal eine Pause machte, sagte niemand etwas, nicht einmal Stuart.
«Ich will also gar nicht mehr sagen, als dass ich verstoßen und aus der Stadt gewiesen wurde», fuhr Margon nach einer Weile fort. «Die treibende Kraft dahinter war mein Bruder.» Er machte eine wegwerfende Handbewegung. «Es liegt in der Natur der Mittelmäßigen, dass sie Lügen für unverzichtbar halten und der Wahrheit misstrauen.»
Lächelnd sah Margon zu Stuart hinüber.
«Deshalb willst du die Wahrheit hören, nicht wahr? Bis jetzt hat dich das Leben gelehrt, dass Lügen so wichtig sind wie die Luft zum Atmen, und jetzt bist du ohne jede Vorwarnung in ein Leben geworfen worden, in dem du nur zurechtkommst, wenn du nach Wahrheit strebst.»
«Genau», sagte Stuart ernst und zögerte, bevor er weitersprach. «Ich bin schwul. Seit ich denken kann, gab es tausend Gründe, das zu verbergen, zu lügen und mich zu verstellen. Aber ich bin nicht so wichtig. Erzählen Sie lieber, was mit Ihnen passierte!»
«Das Glück Margons, des Gottlosen, war, dass niemand wagte, das Blut eines geborenen Königs zu vergießen. Man hat sich damit begnügt, mich vor den Stadttoren auszusetzen und in die Wüste zu schicken, mit nichts als einem Wassersack und einem Stab. Ich zog also durch Afrika, zuerst in südlicher Richtung durch Ägypten, dann die Küste entlang, bis ich zu jener fremdartigen Insel kam, die von einem friedliebenden, aber
Weitere Kostenlose Bücher