Das Geschenk der Wölfe
Weinkaraffen auf, kochten Kaffee und grünen Tee.
Zuletzt wurden frischgebackene Obstkuchen auf den Esstisch gestellt – Apfel, Kirsche und Pfirsich. Dazu eine Käseplatte, Süßigkeiten und frisches Obst.
Margon nahm wieder seinen Platz an der Stirnseite des Tischs ein. Immer noch schien er nicht über den Ursprung der Morphenkinder sprechen zu wollen, aber als er sah, wie neugierig Stuart ihn ansah und wie erwartungsvoll Reuben dasaß, gab er sich einen Ruck.
«Es stimmt, dass es diese isoliert lebende Spezies gab – Primaten, die längst ausgestorben sind und sich in vielerlei Hinsicht von uns unterschieden. Sie lebten vor Tausenden von Jahren auf einer Insel vor der afrikanischen Küste.»
«Von denen haben wir unsere Kraft?», fragte Stuart.
«Genau», sagte Margon. «Das Verbindungsglied ist ein sehr dummer Mann – oder ein sehr weiser, je nachdem, wie man es betrachtet. Er hatte die Idee, aus Affenmenschen mächtige Wolfsmenschen zu machen, die jeder Gefahr trotzen konnten.»
«Hat er solche Wesen gezüchtet?», fragte Stuart.
«Er hat es versucht, aber es gelang ihm nicht», sagte Margon. «Er selbst hat die Kraft übertragen bekommen, indem er sich mehrfach beißen ließ – aber erst nachdem er zwei Jahre lang so viel von den Körpersäften dieser Kreaturen aufgenommen hatte, wie er kriegen konnte. Außerdem sorgte er in diesen zwei Jahren dafür, dass er bei harmlosen Raufereien mit Mitgliedern dieses Stamms gelegentlich gebissen wurde. Er hatte sich mit diesen Leuten angefreundet, nachdem er von seinem eigenen Stamm verstoßen worden war, der in der einzigen Stadt lebte, die es damals gab.»
Margons Ton wurde immer düsterer.
Niemand sagte etwas, alle sahen ihn an, aber er starrte nur auf sein Wasserglas.
Reuben fragte sich, was mit ihm los war, und Stuart schien schon die Geduld zu verlieren, aber Reuben ahnte, dass es hier um mehr ging als eine alte Geschichte, die Margon schon zu oft erzählt und die ihm von Anfang an missfallen hatte.
«Wann war das denn?», fragte Stuart. «Und was soll das heißen, dass es damals nur eine Stadt gab?» Er schien Feuer und Flamme für das Thema zu sein.
«Bitte, Stuart!», sagte Reuben. «Lass Margon auf seine eigene Art erzählen.»
Aber statt Margon meldete sich Laura zu Wort.
«Sie sprechen von sich selbst, nicht wahr?», sagte sie.
Margon nickte.
«Ist die Erinnerung so qualvoll?», fragte Reuben. Er konnte Margons Miene nicht recht deuten. Abwechselnd schien er abwesend und dann wieder hoch konzentriert zu sein. Manchmal schien er zu vergessen, dass er nicht allein war, dann wieder ging er auf die anderen ein.
Die Vorstellung, einen Unsterblichen vor sich zu haben, war faszinierend und verstörend zugleich. Ganz neu war Reuben die Langlebigkeit der Morphenkinder nicht, trotzdem schockierte ihn die Zeitspanne, die Margon durchlebt hatte.
Stuart starrte Margon völlig fasziniert an und schien jedes Detail in sich aufzusaugen.
«Erzählen Sie uns, was passiert ist», sagte er beinahe eingeschüchtert. «Warum sind Sie verstoßen worden? Was hatten Sie getan?»
«Ich wollte den Göttern nicht huldigen», sagte Margon leise, ohne jemanden anzusehen. «Ich wollte ihnen im Tempel keine Opfer darbringen, weil es nur steinerne Statuen waren. Ich wollte auch nicht die Lobeshymnen singen, die wir stundenlang zu monotonen Trommelschlägen darbringen sollten. Ich weigerte mich, den einfachen Leuten zu sagen, dass die Götter alles zerstören würden, wenn sie ihnen keine Opfer darbrachten und sich bei der Feldarbeit und beim Bau der Bewässerungskanäle nicht totschufteten. Margon, der Gottlose, weigerte sich, diese Lügen zu verbreiten.»
Nach einer kurzen Pause sagte er umso lauter: «Nein, es macht mir nichts aus, diese Erinnerungen hervorzuholen. Aber ich glaube nicht mehr daran, dass es etwas nützt, von diesen Dingen zu berichten.»
«Warum haben die Sie nicht einfach hingerichtet?», fragte Stuart.
«Das konnten sie nicht», sagte Margon. «Ich war ihr König.»
Stuart war begeistert.
Reuben hingegen sah plötzlich den Glutofen einer irakischen Wüste vor sich, die von Archäologen gegrabenen Gänge, in denen er gearbeitet hatte. Er sah die antiken Tontafeln mit Keilschrift und die kostbaren Bruchstücke davon, die auf dem langen Tisch in der Geheimkammer lagen. Er war sich ganz sicher, dass das der Zusammenhang war. Sie stammten aus Margons Heimat.
Margon griff nach der silbernen Kaffeekanne, aber Reuben beugte sich schnell vor und
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