Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
Vom Netzwerk:
allgemein verhassten Volk bewohnt wurde.
    Damals wurden sie nicht zur menschlichen Rasse gezählt, aber es waren Menschen, ein völlig abgeschotteter Stamm. Trotzdem nahmen sie mich auf. Sie gaben mir zu essen und zu trinken und auch das wenige, womit sie sich zu bekleiden pflegten. Sie hatten mehr Ähnlichkeit mit Affen als mit Menschen, aber sie verfügten über eine Sprache und konnten damit sogar Liebe ausdrücken.
    Eines Tages sagten sie, ihre Feinde, die Küstenmenschen, kämen. Sie beschrieben, was diese Leute üblicherweise taten, wenn sie die Insel überfielen, und alle, auch ich, glaubten, wir würden sterben.
    Das Inselvolk lebte in größter Harmonie. Die Küstenmenschen hingegen waren
Homo sapiens sapiens
wie ich. Sie waren mit Speeren und Steinäxten bewaffnet und wild entschlossen, die in ihren Augen minderwertige Rasse auszurotten.
    ‹Geh und versteck dich vor ihnen›, sagten die Inselbewohner zu mir. ‹Bald kommen sie mit Booten übers Meer.› Als es so weit war, tanzten sie wild im Kreis umher und verwandelten sich. Ihre Gliedmaßen zogen sich in die Länge, Reißzähne wuchsen ihnen, und ihr ganzer Körper wurde von dichtem Wolfspelz überzogen. Euch brauche ich es ja nicht näher zu schildern, ihr habt es am eigenen Leibe erlebt. Der ganze Stamm, Männer wie Frauen, verwandelte sich vor meinen Augen in furchterregende Monster.
    Aus Menschen oder Humanoiden wurde ein heulendes Wolfsrudel. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Sie überwältigten die Eindringlinge, warfen sie ins Meer zurück, fraßen sie, zerstörten ihre Boote mit Zähnen und Klauen und verfolgten jeden, der fliehen konnte, bis sie ihn packen und mit Haut und Haaren verschlingen konnten.
    Anschließend verwandelten sie sich in ihre ursprüngliche Gestalt zurück und sagten, ich bräuchte die Feinde auch in Zukunft nicht zu fürchten, denn sie könnten das Böse riechen, wenn es sich näherte. Sie röchen es schon, bevor die Boote zu sehen waren. Auch vor ihnen selbst bräuchte ich keine Angst zu haben, denn was ich gerade gesehen hätte, täten sie nur, wenn es gelte, den Feind zu vertreiben. Es sei eine Fähigkeit, die ihnen die Götter vor langer Zeit verliehen hätten, damit sie sich gegen das Böse verteidigen könnten, das ihre friedliche Welt grundlos zerstören wolle.
    Ich blieb zwei Jahre dort und wollte werden wie sie. Ich trank ihren Urin, ihr Blut, ihre Tränen und was immer sie mir sonst gaben. Es war mir egal, welchen Ekel ich dabei überwinden musste. Ich schlief auch mit ihren Frauen und beschaffte mir den Samen der Männer. Sie gaben mir ihre Körpersekrete im Austausch für Wissen und Ratschläge. Manchmal machte ich auch kleinere Erfindungen für sie, von denen sie niemals auch nur geträumt hätten, und ich löste Probleme, die für sie unlösbar waren.
    Sie verwandelten sich nicht nur, wenn Feinde von außen kamen, sondern auch, wenn es darum ging, einen Gesetzesbrecher aus den eigenen Reihen zu bestrafen, meist einen Mörder.
    Auch diese Übeltäter erkannten sie am Geruch. Hatte sich jemand etwas Schwerwiegendes zuschulden kommen lassen, umzingelten sie ihn und tanzten sich in Trance, bis die Verwandlung einsetzte. Dann stürzten sie sich auf den Schuldigen, zerrissen und verschlangen ihn. Soviel ich weiß, haben sie sich niemals geirrt, und ich habe mehr als einmal erlebt, dass sie einen Gesetzesbrecher richteten. Sie haben ihre Macht niemals missbraucht. Alles in ihnen sträubte sich dagegen, unschuldiges Blut zu vergießen. Die Götter hatten ihnen nur die Fähigkeit verliehen, das Böse auszumerzen, und sie zweifelten niemals an der Richtigkeit ihres Handelns. Dass ich ihre Fähigkeiten erwerben wollte und dachte, ich könnte selbst dafür sorgen, fanden sie ausgesprochen amüsant. Trotzdem tat ich alles, was ich konnte, um Teile von ihnen zu bekommen, wenn sie sich verwandelt hatten. Sie fanden das sehr komisch, aber da sie großen Respekt vor mir hatten, ließen sie mich gewähren.»
    Margon schloss die Augen und legte die Fingerspitzen an die Nase. Als er die Augen wieder aufschlug, schien er die Welt von früher vor sich zu sehen.
    «Waren diese Leute sterblich?», fragte Laura.
    «Ja, das waren sie», sagte Margon. «Sie starben sogar an den geringfügigsten Krankheiten, die meine Palastärzte mit Leichtigkeit hätten heilen können. Ein entzündeter Zahn, den man hätte ziehen können, ein gebrochenes Bein, das falsch behandelt wurde, sodass Wundbrand einsetzte. Sie verehrten mich, weil ich

Weitere Kostenlose Bücher