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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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manche Krankheiten und Verletzungen heilen konnte.»
    Thibault, der gesagt hatte, er habe keine Lust, sich Margons alte Geschichten anzuhören, lauschte so fasziniert, als sei ihm das alles neu.
    «Warum haben sie sich dann doch gegen dich gewendet?», fragte er. «Das hast du noch nie erzählt.»
    «Ich habe den gleichen Fehler begangen wie früher», erwiderte Margon. «Nach zwei Jahren hatte ich genug von ihrer einfachen Sprache gelernt, um ihnen zu sagen, dass ich nicht an ihre Götter glaubte. Man darf nicht vergessen, dass ich damals noch sehr jung war, vielleicht drei Jahre älter als Stuart jetzt. Ich wollte ihre Fähigkeit haben. Und die kam nicht von den Göttern. Ich fand, dass ich es ihnen sagen sollte. Damals sagte ich die Wahrheit, wo ich ging und stand.» Er lachte leise. «Ihre Religion war nicht annähernd so komplex wie die der städtischen Zivilisationen in den fruchtbaren Ebenen. Sie hatten keine Tempel oder Tempelsteuern oder Altäre für Blutopfer. Trotzdem hatten sie ihre Götter. Und ich fühlte mich berufen, ihnen zu sagen, dass es keine Götter gab.
    Sie hatten mich immer gut behandelt und verehrten mich sogar, weil ich ihnen viel beibrachte. Aber dass ich ihre Fähigkeiten erwerben wollte, fanden sie ausgesprochen lachhaft, denn in ihrem Denken konnte man nichts erwerben, was die Götter einem nicht von allein gaben. Und die Götter hatten nun mal ihnen diese besonderen Fähigkeiten verliehen – und nicht mir.
    Als sie dann begriffen, dass ich ihre Götter grundsätzlich ablehnte, erklärten sie mich zum Gesetzesbrecher der übelsten Sorte und setzten einen Zeitpunkt fest, an dem ich sterben sollte.
    Ihre Tötungsrituale fanden immer bei Sonnenuntergang statt. Wenn sie bei hellichtem Tage angegriffen wurden, konnten sie sich ohne weiteres verwandeln, aber bei Hinrichtungen warteten sie immer bis Sonnenuntergang.
    Als es nun also dunkel wurde, zündeten sie ihre Fackeln an, stellten sich in einem großen Kreis auf und zwangen mich in die Mitte. Dann begannen sie zu tanzen, um ihre Verwandlung herbeizuführen.
    Es fiel ihnen nicht leicht, und nicht alle machten mit. Ich hatte vielen das Leben gerettet, kranke Kinder geheilt. Es war deutlich zu sehen, wie sehr es ihnen widerstrebte, einen Unschuldigen anzugreifen. Ich weiß zwar nicht, welchen Geruch sie an mir wahrnahmen, aber es war wohl nicht der eines üblichen Missetäters.
    Dafür weiß ich, welchen Geruch ich an ihnen wahrnahm – einen abscheulichen, säuerlichen, der mir sehr böse vorkam, weil ich um mein Leben fürchten musste, als sie sich in Wolfsgestalt auf mich stürzten.
    Hätten sie mich zerrissen wie die anderen Feinde und Gesetzesbrecher, wäre es das Ende meiner Geschichte. Doch das taten sie nicht. Etwas hielt sie zurück – der Respekt vor mir oder ein Misstrauen in das Urteil, das ihre Anführer über mich gefällt hatten.
    Sie griffen mich an, aber ich hatte mir mit der Zeit genug von ihnen einverleibt, um gegen kleinere Verletzungen immun zu sein und größere mit Selbstheilungskräften unschädlich zu machen. So habe ich ihre Angriffe überlebt.
    Dennoch hatte ich zahllose Wunden, und ich kroch auf allen vieren in den Dschungel, um zu sterben. Es waren die schlimmsten Schmerzen, die ich je hatte, und es machte mich unfassbar wütend, dass mein Leben auf diese Weise enden sollte. Sie umtanzten mich weiter, als sie sich in ihre ursprüngliche Gestalt zurückverwandelten, beschimpften und verfluchten mich, und als sie sahen, dass ich nicht tot war, wurden sie wieder zu Wölfen. Aber auch beim zweiten Mal konnten sie es nicht über sich bringen, mich zu töten.
    Und dann habe
ich
mich verwandelt.
    Direkt vor ihren Augen.
    Die treibende Kraft waren meine Wut und der Gestank des Hasses, der von ihnen ausging.
    Ich verwandelte mich also und ging zum Gegenangriff über.»
    Mit weit aufgerissenen Augen blickte Margon auf etwas, das nur er sehen konnte. Alle anderen saßen schweigend da. Reuben registrierte nicht zum ersten Mal, dass Margon die Situation auch dann beherrschte, wenn er nichts sagte und keinerlei einschüchternde Gesten machte. Er hatte etwas wahrhaft Königliches.
    Kaum merklich schüttelte Margon den Kopf und fuhr fort: «Sie waren keine ebenbürtigen Gegner und kamen mir vor wie verspielte Welpen mit Milchzähnen. Sie waren eine primitive humanoide Spezies mit animalischen Fähigkeiten, ich aber war ein
Homo sapiens sapiens
, der ihre Superkräfte in sich aufgenommen hatte – eine ungleich potentere

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