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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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gerade in Englisch promovierte und kurz vor der mündlichen Prüfung stand. Er selbst hatte immer noch ein schlechtes Gewissen wegen seines abgebrochenen Studiums.
    «Du siehst besser aus denn je», sagte Mort. Er hatte Ringe unter den Augen, und seine Kleidung war verknittert.
    Andere Freunde meldeten sich telefonisch oder per SMS , alte Schulkameraden und Kollegen von der Zeitung. Aber Reuben hatte keine Lust zu reden. Trotzdem freute er sich über die Anteilnahme. Seine Cousins aus Hillsborough wollten vorbeikommen, aber er sagte, er dürfe nicht so viel Besuch empfangen. Grace’ Bruder, der in Rio de Janeiro arbeitete, schickte ein Paket Kekse, das für die ganze Station ausreichte. Phils Schwester, die in einem Altersheim in Pasadena lebte, war so krank und schwach, dass man ihr nichts von Reubens Missgeschick erzählt hatte.
    Celeste störte es nicht, dass er mit Marchent geschlafen hatte, und fuhr sogar die Ermittlungsbeamten an: «Sie wollen doch wohl nicht behaupten, er hätte sie vergewaltigt und gezwungen, ihm ein Fünf-Millionen-Anwesen zu vermachen? Hätte sie sich dann in aller Seelenruhe eine Stunde lang mit ihrem Anwalt darüber unterhalten? Das ist doch lächerlich! Muss ich denn sogar noch der Polizei auf die Sprünge helfen? Denken Sie gefälligst nach, bevor Sie haltlose Fragen stellen!»
    Gegenüber den Medien äußerte sie sich ähnlich. Reuben sah sie manchmal im Fernsehen, wenn sie die Reporter mit Gegenfragen bombardierte. In ihrem schlichten schwarzen Kostüm mit Rüschenbluse und zerzausten braunen Locken sah sie einfach hinreißend aus. Auch die ehrliche Empörung stand ihr gut.
    Eines Tages wird sie eine berühmte Anwältin sein
, dachte er.
    Sobald er wieder Essen bei sich behalten konnte, brachte sie ihm Minestrone aus North Beach mit. Sie trug das Rubinarmband, das er ihr geschenkt hatte, und ihr Lippenstift hatte die gleiche Farbe. Seit er im Krankenhaus lag, machte sie sich besonders hübsch, und er registrierte es.
    «Das mit Marchent tut mir wirklich leid», sagte er.
    «Meinst du etwa, ich verstehe das nicht? Eine romantische Küste, ein romantisches Haus, eine romantische ältere Frau. Mach dir keine Gedanken!»
    «Vielleicht solltest lieber du in den Journalismus gehen», murmelte er.
    «Ha! Da ist es ja wieder, das Sonnyboylächeln! Ich dachte schon, du hättest es verlernt.» Zärtlich streichelte sie ihm über den Hals. «Alles komplett verheilt. Es ist ein Wunder!»
    Reuben wollte sie auf die Wange küssen, doch dann schlummerte er ein.
    Er roch das Essen, und ein anderer Duft mischte sich darunter, ein Parfüm. Es war die Marke seiner Mutter. Und dann waren da all die anderen chemischen Gerüche, typisch Krankenhaus. Als er die Augen aufschlug, nahm er nur noch die chemischen Gerüche wahr, die hier seit Jahren in den Wänden hingen. Jeder einzelne war klar zu identifizieren und hatte eine ganz eigene Note. Es war, als entzifferte er einen Code.
    Irgendwo in der Ferne redete die sterbende Frau immer noch auf ihre Tochter ein: «Schalte die Apparate ab! Ich bitte dich!» Und die Tochter erwiderte: «Aber Mommy, es gibt gar keine Apparate!» Dann weinte sie.
    Als die Krankenschwester das nächste Mal hereinkam, erkundigte er sich nach Mutter und Tochter. Er wollte es nicht zugeben, aber er hatte das merkwürdige Gefühl, dass die Mutter in Wahrheit etwas
von ihm
wollte.
    «Auf dieser Station liegt keine solche Patientin, Mr. Golding», versicherte ihm die Schwester. «Es sind wohl die Medikamente, die Ihnen diese Stimmen vorgaukeln.»
    «Welche Medikamente geben Sie mir eigentlich genau? Letzte Nacht dachte ich, ich hätte eine Kneipenschlägerei gehört.»
    Als er das nächste Mal aufwachte, stand er am Fenster. Wie er dahin gekommen war, wusste er nicht. Ohne es zu merken, hatte er sich die Kanüle aus dem Arm gerissen. Sein Vater saß an seinem Krankenbett und döste. Celeste stand etwas abseits mit dem Rücken zu Reuben und sprach aufgeregt in ihr Handy.
    «Wie bin ich hierhergekommen?»
    Eine merkwürdige Unruhe machte sich in ihm breit. Er wollte gehen, laufen, nicht nur den Korridor entlang mit dem Tropf im Schlepp, sondern raus aus dem Gebäude, die Straße runter, in den Wald und dann auf die Berge. Der Drang war so übermächtig, dass er es kaum noch ertragen konnte, hier eingeschlossen zu sein. Es war qualvoll. Er sah die Wälder vor sich, die Marchents Haus umgaben,
mein Haus
, und er dachte:
Nie wieder werden wir dort zusammen spazieren gehen. Sie wird mir

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