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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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sich im Spiegel zu betrachten. Hmmm. Sein Haar war tatsächlich dichter und länger geworden.
    Zum ersten Mal dachte er wieder an jenen mysteriösen Margon und sein schulterlanges Haar. Margon, der Gottlose, inmitten der anderen feinen Herren auf dem Foto über dem Kamin in der Bibliothek. Vielleicht, überlegte er, sollte er sein Haar von jetzt an wie dieser Margon tragen. Eine Zeitlang jedenfalls.
    Unwillkürlich musste er lachen.
    Als er nach Russian Hill zurückkehrte, setzte er sich sofort an den Schreibtisch. Noch während die Krankenschwester, die für ihn angeheuert worden war, bei ihm Puls und Temperatur maß, fuhr er seinen Laptop hoch.
    Es war früher Nachmittag, acht Tage nach dem Massaker, und einer dieser schönen klaren Tage, an denen die San Francisco Bay wie ein blauer Juwel leuchtete und die Stadt trotz der vielen gläsernen Türme ganz weiß aussah. Er ging auf den Balkon, genoss die kühle Brise und atmete tief ein, obwohl er sich früher nicht viel aus dem typischen Küstenwind gemacht hatte.
    Es war wunderbar, wieder im eigenen Zimmer zu sein, mit dem eigenen Kamin und dem eigenen Schreibtisch.
    Er schrieb fünf Stunden lang.
    Als er die Taste drückte, um den Artikel an Billie abzuschicken, war er mit seiner minutiösen Schilderung der Ereignisse zufrieden. Aber er wusste, dass die Medikamente seine Erinnerung trübten und dass dieser Text nicht den Schwung hatte, der seine Texte sonst auszeichnete. «Kürze, wenn du meinst, es ist nötig», hatte er für Billie dazugeschrieben. Sie würde schon wissen, was zu tun war. Auch für sie war es ja eine merkwürdige Situation, dass sich «einer der vielversprechendsten Reporter des
Observer
», wie es immer hieß, nun selbst in den Schlagzeilen anderer Zeitungen wiederfand.
    Am nächsten Morgen wachte er mit einem drängenden Gedanken auf und rief sofort seinen Anwalt, Simon Oliver, an. «Es geht um das Nideck-Anwesen», sagte er. «Genauer gesagt um die persönlichen Hinterlassenschaften und Unterlagen von Felix Nideck. Ich möchte sie kaufen.»
    Simon riet ihm, nichts zu überstürzen und einen Schritt nach dem anderen zu machen. Noch nie zuvor habe Reuben sein Kapital angerührt. Großvater Spangler (Grace’ Vater) sei doch erst vor fünf Jahren gestorben, und was hätte er wohl davon gehalten, wenn sein Vermögen gleich ausgegeben würde? Reuben unterbrach den Anwalt und sagte, er wolle alles erwerben, was Felix Nideck gehört hatte, es sei denn, Marchent hätte andere Verfügungen getroffen. Dann legte er abrupt auf.
    So kenne ich mich gar nicht, dachte er. Direkt unhöflich war er nicht gewesen, nur sehr bestimmt.
    Am Nachmittag, als sein Artikel in Druck gegangen war, döste er vor sich hin und beobachtete, wie der Nebel vom Meer hereinkam und langsam die Bucht einhüllte. Das Telefon klingelte, und Oliver sagte, die Anwälte, die den Nachlass Felix Nidecks verwalteten, seien sehr aufgeschlossen. Marchent Nideck habe ihnen gesagt, dass sie nicht wisse, was mit den persönlichen Hinterlassenschaften ihres Onkels geschehen solle, und so spräche nichts dagegen, sie an Reuben zu veräußern. Ob er tatsächlich alles erwerben wolle, was sich im Haupthaus und den Nebengebäuden befinde?
    «Alles», sagte Reuben. «Möbel, Bücher, Aufzeichnungen, einfach alles.»
    Er schloss die Augen und weinte, als er an Marchent dachte. Die Krankenschwester kam, um nach ihm zu sehen, aber als sie ihn in diesem Zustand vorfand, wollte sie nicht stören und zog sich wieder zurück. «Marchent», flüsterte er. «Wunderschöne Marchent.»
    Später bat er die Schwester, ihm eine starke, frische Rinderbrühe zu besorgen.
    «Ich koche sie lieber selbst», sagte die Schwester. «Ich fahre nur schnell die Zutaten kaufen, die ich dafür brauche.»
    «Großartig», sagte Reuben und war angezogen, bevor ihr Wagen um die Ecke bog. Ohne dass Phil etwas merkte, schlich er aus der Haustür.
    Er ging den Russian Hill hinunter, Richtung Bucht, und genoss den Wind und die Bewegung.
    Er schien mehr Kraft in den Beinen zu haben als je zuvor. Dabei hätten sie nach so vielen Tagen im Krankenhausbett doch geschwächt sein müssen. Stattdessen rannte er fast.
    Als er North Beach erreichte, war es schon fast dunkel. Er passierte Restaurants und Bars, betrachtete die Menschen und hatte plötzlich das Gefühl, anders zu sein. Ihm war, als könnte er sie sehen, sie ihn aber nicht. Natürlich sahen sie ihn, das wusste er, und trotzdem hatte er das Gefühl, nicht wirklich gesehen zu

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