Das Geschenk der Wölfe
Celeste beschwichtigend. «Da hatten sie andere Sorgen, als irgendwelche Tollwuttests durchzuführen.»
«Trotzdem müssen wir auf Nummer sicher gehen», erwiderte Grace. «Ich fange gleich mit einer Tollwuttherapie an.» Dann erklärte sie Reuben, die Behandlung sei nicht mehr annähernd so schmerzhaft wie früher, allerdings werde er nun achtundzwanzig Tage lang Spritzen bekommen. Sobald erste Symptome auftauchten, verlaufe die Tollwut fast immer tödlich. Deswegen hätten sie keine Wahl, als unverzüglich Gegenmaßnahmen einzuleiten.
Reuben war es einerlei. Genau wie der bohrende Schmerz in seinen Eingeweiden, die Kopfschmerzen und die stechenden Gesichtsverletzungen. Auch das Schwindelgefühl, das von den Antibiotika verursacht wurde, war ihm egal. Das Einzige, was ihn bewegte, war die Tatsache, dass Marchent tot war.
Er schloss die Augen, sah Marchent vor sich und hörte ihre Stimme.
Er konnte nicht fassen, wie schnell sie aus dem Leben geschieden war und dass er den Angriff überlebt hatte.
Erst am nächsten Tag durfte er sich die Nachrichten im Fernsehen anschauen. Das Unglück im Nideck-Haus war Stadtgespräch in ganz Mendocino. Viele glaubten, dass Wölfe dahintersteckten, denn Wolfsattacken gab es in dieser Gegend alle paar Jahre. Aber auch über Bären wurde geredet, denn dass es dort welche gab, war unbestritten. Menschen, die in der Nähe des Hauses wohnten, schworen allerdings auf einen Berglöwen, dem sie schon seit einem Jahr auf der Spur waren.
Tatsache war, dass niemand das Tier finden konnte, egal welcher Art es sein mochte, obwohl der ganze Redwoodwald durchkämmt worden war, nachdem einige Leute behauptet hatten, sie hätten dort nachts ein merkwürdiges Geheul gehört.
Geheul. Reuben konnte sich lebhaft an das furchterregende Geräusch erinnern, mit dem sich das Tier auf die Brüder gestürzt hatte. Es schien nicht töten zu können, ohne solche Geräusche zu machen. Sie waren Teil seiner todbringenden Kraft.
Mehr Medizin. Mehr Schmerzmittel. Mehr Antibiotika. Reuben wusste nicht, wie lange er schon im Krankenhaus lag.
Eines Tages sagte Grace, wahrscheinlich sei gar keine plastische Chirurgie nötig, um Reubens Gesicht wiederherzustellen. «Diese Bisswunde verheilt ganz erstaunlich, und auch deine Bauchdecke heilt sehr gut.»
«Als Kind ist er vernünftig ernährt worden», sagte Celeste. «Seine Mutter ist eine brillante Ärztin.» Dabei zwinkerte sie Grace zu, und Reuben freute sich, dass die beiden Frauen sich so gut verstanden.
«Ganz richtig», sagte Grace. «Und kochen kann sie auch. Trotzdem verläuft dieser Heilungsprozess erstaunlich gut.» Zärtlich fuhr sie mit den Fingern durch Reubens Haar, streichelte seinen Hals und seine Brust.
«Was glaubst du, woran das liegt?», fragte Reuben leise.
«Keine Ahnung», sagte Grace nachdenklich. «Jedenfalls brauchst du keine Vitaminspritzen mehr.»
Reubens Vater saß in einer Ecke des Krankenzimmers und las
Grashalme
von Walt Whitman. Ab und an sagte er etwas wie: «Du lebst, Sohn, das ist das Wichtigste.»
Obwohl alles andere gut heilte, nahmen Reubens Kopfschmerzen zu. Er konnte nie richtig schlafen, sondern fiel lediglich in einen leichten Schlummer, und dann hörte er die Gespräche der anderen unfreiwillig mit, ohne sie zu verstehen.
Grace, wie sie zu jemandem – vielleicht einem anderen Arzt – sagte: «Er verändert sich. Nein, nein, mit dem Tollwutvirus hat es nichts zu tun. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass er damit überhaupt infiziert war. Trotzdem sehe ich die Veränderungen. Es klingt verrückt, aber sein Haar wird dicker. Und seine Augen …»
Am liebsten hätte Reuben sie gefragt: Wovon redest du? Aber er konnte es nur denken, und dann mischte sich dieser Gedanke mit anderen, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließen.
Die Medikamente, die er bekam, konnten sein Bewusstsein nicht ausschalten, sondern dämpften nur alles. Sie konnten auch nicht verhindern, dass die Erinnerung immer wieder brutal in ihm hochkam und ihn aufwühlte, bis er nicht mehr auseinanderhalten konnte, was Realität oder Einbildung war. Manchmal schreckte er von Geräuschen auf, und selbst Gerüche konnten ihn aus dem leichten Schlaf reißen.
Jim kam ihn mehrmals am Tag besuchen, immer in Eile, weil er etwas Dringendes für seine Gemeinde zu erledigen hatte, und auch er versicherte Reuben, dass seine Genesung gute Fortschritte mache. Dennoch sah Reuben im Gesicht seines Bruders etwas, das ihm neu war: eine große Furcht. Jim hatte seinen
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