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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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werden. Das war völlig neu für ihn.
    Bis jetzt war ihm wichtig gewesen, wie andere Menschen ihn sahen. Oder anders: Es war ihm nie ganz geheuer gewesen, von anderen angesehen und beurteilt zu werden. Jetzt aber war es ihm völlig egal. Er fühlte sich unsichtbar. Frei.
    Er betrat eine schummrige Bar, setzte sich auf einen Hocker am Ende des Tresens und bestellte sich eine Cola light. Zum ersten Mal im Leben war ihm egal, was der Barkeeper dabei von ihm dachte.
    Er trank, und das Koffein stieg ihm zu Kopf.
    Er drehte sich zum Fenster und beobachtete die Passanten.
    Ein Mann betrat die Bar. Er war groß und kräftig und hatte eine zerfurchte Stirn. Ein paar Barhocker entfernt nahm er Platz. Er trug eine dunkle, durchgescheuerte Lederjacke und zwei große silberne Ringe an der rechten Hand. Er hatte etwas Grobschlächtiges und beugte sich ungelenk über den Tresen. Auch die Art, wie er sich ein Bier bestellte, war unkultiviert. Er strahlte etwas Böswilliges, vielleicht sogar Gewalttätiges aus.
    Plötzlich drehte er sich zu Reuben um und fragte: «Was gibt’s zu glotzen?»
    Reuben betrachtete ihn gelassen und fühlte sich in keiner Weise verpflichtet, ihm zu antworten, sondern sah ihn einfach weiter an.
    Wütend stand der Mann auf und verließ die Bar.
    Reuben sah ihm nach. Er begriff, dass er den Mann verärgert hatte und dass er sich in eine Situation manövriert hatte, die er sonst stets vermieden hatte. Nie wäre es ihm früher in den Sinn gekommen, einen starken Kerl gegen sich aufzubringen. Jetzt war es ihm vollkommen egal. Stattdessen versuchte er sich klarzumachen, was er in dem Mann gesehen hatte: Er trug eine Schuld mit sich herum, eine große Schuld. Fast hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er überhaupt noch am Leben war.
    Reuben verließ die Bar.
    Überall in der Stadt brannten jetzt die Lichter. Es war stockdunkel. Der Verkehr hatte zugenommen, und auch mehr Leute waren unterwegs. Es herrschte gelöste Feierabendstimmung, und überall waren nur fröhliche Gesichter zu sehen.
    Plötzlich hörte er wieder Stimmen. Stimmen von weit her.
    Wie angewurzelt blieb er stehen und horchte. Irgendwo kämpften gerade eine Frau und ein Mann miteinander. Die Frau war ebenso wütend wie verängstigt. Der Mann drohte ihr, und sie begann zu schreien.
    Reuben war wie gelähmt. Seine Muskeln verkrampften sich. Was er hörte, traf ihn bis ins Mark, aber er wusste nicht, was er tun sollte. Erst nach einer Weile wurde ihm bewusst, dass jemand neben ihm stand. Es war der unangenehme Mann aus der Bar.
    «Immer noch auf Ärger aus?», schnarrte er. «Schwuchtel!» Er legte Reuben die flache Hand auf die Brust und wollte ihn wegstoßen, aber Reuben bewegte sich keinen Millimeter. Stattdessen schoss seine rechte Faust in die Höhe und traf den Mann unter der Nase. Er flog über den Bürgersteig und landete unsanft am Straßenrand.
    Andere Passanten erschraken, flüsterten miteinander und zeigten auf Reuben.
    Der Mann war eher erstaunt als wütend. Reuben beobachtete ihn. Die Hand an der blutigen Nase stand er langsam auf und machte, dass er wegkam, ohne auf den vorbeirauschenden Verkehr zu achten. Dann war er verschwunden.
    Reuben sah auf seine Hand. Gott sei Dank kein Blut. Trotzdem hatte er das Bedürfnis, die Hand zu waschen. Er trat an die Fahrbahn, winkte einem Taxi und fuhr nach Hause.
    Was hatte das alles zu bedeuten? Einmal war er von zwei Junkies angegriffen worden, die ihn beinahe umgebracht hätten. Und jetzt war es ihm ein Leichtes, sich gegen einen großen, schweren Mann zu verteidigen, der ihn noch vor zwei Wochen restlos eingeschüchtert hätte. Er war kein Feigling, besaß aber genügend gesunden Menschenverstand, um sich nicht auf einen Kampf mit jemandem einzulassen, der in Streitlaune und fünfzig Pfund schwerer war. Solchen Leuten ging man aus dem Weg, und zwar schnell.
    Das schien er jetzt aber nicht mehr nötig zu haben.
    Er wusste, dass es etwas zu bedeuten hatte, aber er wollte nicht wissen, was. Es war ein wunderbares Gefühl, und er wollte es einfach nur genießen.
    Grace empfing ihn nahezu hysterisch, als er nach Hause kam. Wo war er gewesen?
    «Einfach nur draußen, Mom. Wo soll ich denn sonst gewesen sein?» Er setzte sich gleich wieder an seinen Computer. «Ich habe zu arbeiten.»
    «Was soll das?» Grace gestikulierte erregt. «Ein verspätetes kindliches Aufbegehren? Müssen wir uns jetzt darauf einstellen, dass du die ganze Pubertät noch mal durchläufst?»
    Reubens Vater sah von seinem Buch

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