Das Geschenk der Wölfe
bevor er sagte: «Je nach Situation und psychischer Verfassung benehmen Menschen sich manchmal destruktiv.»
«Vielleicht ist es das», sagte Reuben.
«Was meinst du?»
Reuben hatte keine Lust, seinem Bruder von dem Mann in der Bar zu erzählen. Außerdem gab es da nicht viel zu erzählen. Es war ja praktisch nichts passiert. Interessant war nur, wie er den Mann wahrgenommen hatte. Er schien eine gesteigerte Wahrnehmung für dessen destruktive Energie und Absichten gehabt zu haben. «Etwas so Banales …», murmelte Reuben.
«Erinnerst du dich daran», sagte Jim, «dass ich dich immer damit aufgezogen habe, du müsstest wohl eine gute Fee haben, die einen Sonnyboy aus dir macht, dem alles wie von selbst zufällt?»
«Allerdings», sagte Reuben gereizt. «So einer war ich.»
«Jedenfalls ist dir so etwas wie letzte Woche noch nie passiert, und deswegen mache ich mir Sorgen.»
Reuben sagte nichts. In Gedanken war er immer noch bei dem Mann an der Bar. Dann sah er seinen Bruder an und dachte, was für ein freundlicher, sanfter Mensch Jim doch war. Seine neueste Erklärung dafür war, dass Jim eine Einfachheit und Klarheit besaß, die anderen abging.
Als Jim wieder das Wort ergriff, riss er Reuben aus seinen Gedanken.
«Ich würde alles dafür geben, dir zu helfen», sagte er. «Damit dein Gesicht wieder das alte wird und ich meinen Bruder Reuben wiedererkenne.»
Eine bemerkenswerte Aussage, aber Reuben erwiderte darauf nichts. Was hätte er auch sagen sollen? Er versuchte sich zu konzentrieren, aber seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Es war schmerzhaft, an den Überfall erinnert zu werden, vor allem, wenn Marchents Gesicht vor ihm auftauchte, so wie jetzt.
Jim räusperte sich. «Ich glaube, ich verstehe, was du durchmachst», sagte er. «Sie hat geschrien, und du wolltest ihr helfen, aber du warst nicht rechtzeitig bei ihr. Du hast dein Bestes versucht, aber du hast es nicht geschafft. Daran hätte jeder zu knabbern.»
Jim hatte ja recht. Trotzdem wollte Reuben nicht darüber sprechen. Es war so einfach gewesen, den Mann aus der Bar niederzuschlagen, so selbstverständlich. Genauso einfach war es gewesen, ihn nach dem einen Schlag wieder laufenzulassen.
«Reuben?»
«Ja, Jim, ich höre dir zu. Aber du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Lass uns lieber ein andermal reden. Momentan ist alles in Ordnung.»
Jims Telefon klingelte. Verärgert holte er es aus der Tasche und sah aufs Display. Dann stand er auf, küsste Reuben auf die Stirn und ging.
Gott sei Dank, dachte Reuben.
Er starrte ins Feuer. Es war nur ein Gasbrenner, sah aber ganz natürlich aus. Er dachte an das echte Holzfeuer in Marchents Diele, an das Bullern und Knistern der mächtigen Flammen, und glaubte das Feuer wieder riechen zu können, zusammen mit Marchents Parfüm.
Wenn dir so etwas passiert, macht es dich einsam. Egal wie viele Menschen dich lieben und dir helfen wollen
–
du bist allein. Ganz allein.
Auch Marchent war allein, als sie starb.
Plötzlich konnte er sich ihre letzten Momente ganz genau vorstellen, wie ihr Gesicht auf dem Küchenfußboden lag und sie langsam verblutete.
Reuben stand auf und ging durch den Hausflur. Das Arbeitszimmer seines Vaters war dunkel, und die Tür stand offen. Die Lichter der Stadt schimmerten durch die hohen, weiß gerahmten Fenster. Phil saß in Morgenmantel und Pyjama auf seinem großen ledernen Schreibtischstuhl, hatte Kopfhörer aufgesetzt und hörte mit hochgelegten Beinen Musik. Dazu sang er leise mit.
Reuben ging zu Bett.
Gegen zwei Uhr schreckte er aus dem Schlaf und dachte: Jetzt ist es mein Haus. Das bindet mich für immer an die Geschehnisse, für den Rest meines Lebens. Wieder einmal hatte er vom Grauen jener Nacht geträumt, aber dieses Mal war es nicht bloß ein Kaleidoskop der immer gleichen Schreckensbilder gewesen. Vielmehr hatte er die Tierpfote auf seinem Rücken gespürt und den Atem der Bestie gehört. In seinem Traum war es weder Hund, Wolf noch Bär, sondern eine gesichtslose, dunkle Macht, die erst den jungen Angreifern den Garaus gemacht und dann – aus welchen Gründen auch immer – beschlossen hatte, ihn am Leben zu lassen.
Mord! Mord!
Am nächsten Vormittag unterzeichneten die Anwälte der Familien Nideck und Golding einen Kaufvertrag über den persönlichen Nachlass von Felix Nideck. Marchents handschriftlicher Testamentsnachtrag, den Felice als Zeugin unterschrieben hatte, war ans Nachlassgericht weitergeleitet worden, und in sechs
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