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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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auf und fragte: «Bist du dir sicher, mein Sohn, dass du zweihunderttausend Dollar für die persönlichen Hinterlassenschaften dieser Familie Nideck ausgeben willst? Hast du Simon Oliver tatsächlich damit beauftragt, das ganze Zeug zu erwerben?»
    «Es ist ein Schnäppchen, Dad. Ich versuche nur zu tun, was Marchent gewollt hätte.»
    Reuben wollte schon anfangen zu schreiben, als ihm einfiel, dass er sich noch gar nicht die Hände gewaschen hatte.
    Er ging ins Badezimmer und begann sich die Hände zu schrubben. Irgendetwas stimmte nicht mit seiner Hand. Er streckte die Finger aus. Das war doch nicht möglich! Er untersuchte die andere Hand. Größer! Seine Hände waren größer als früher! Hätte er einen Ring getragen, hätte er es schon eher bemerkt.
    Er ging an seine Kommode und holte ein Paar lederne Autohandschuhe heraus. Sie passten ihm nicht mehr.
    Ganz ruhig stand er da und versuchte zu verstehen, was mit ihm geschah. Seine Füße taten weh, und zwar schon den ganzen Tag. Er hatte nur nicht groß darauf geachtet, weil er seinen ersten Ausflug genießen wollte. Aber nun wurde ihm klar, was mit seinen Füßen los war: Auch sie waren gewachsen. Nicht viel, aber schon deutlich. Er zog die Schuhe aus und spürte die Erleichterung.
    Er ging ins Zimmer seiner Mutter. Mit verschränkten Armen stand sie am Fenster und sah ihm entgegen. Genauso habe ich immer die Leute angesehen, dachte er. Taxierend, prüfend, skeptisch. Nur dass seine Mutter nicht irgendwen auf diese Weise ansah, sondern ihn.
    «Wachstumshormone», sagte er. «Die haben sie doch in meinem Blut gefunden, oder?»
    Grace nickte verhalten. «Physiologisch betrachtet bist du bis etwa dreißig noch im Wachstum. Deswegen produziert dein Körper im Schlaf immer noch Wachstumshormone.»
    «Also könnte ich immer noch einen Wachstumsschub bekommen?»
    «Einen kleinen vielleicht.»
    Reuben merkte, dass seine Mutter ihm etwas verheimlichte, und fragte: «Was gibt’s für ein Problem, Mom?»
    «Ich weiß nicht, mein Baby. Ich mache mir einfach Sorgen um dich. Ich möchte doch nur, dass es dir gutgeht.»
    «Aber es geht mir gut, Mom. Es ging mir nie besser.»
    Zurück in seinem Zimmer legte er sich aufs Bett und schlief sofort ein.
    Am nächsten Tag kam sein Bruder nach dem Abendessen auf ihn zu und bat um ein Gespräch unter vier Augen.
    Sie gingen auf die Dachterrasse, aber dort war es so kalt, dass sie nach einigen Minuten ins Wohnzimmer gingen und sich vor den Kamin setzten. Es war ein kleines Zimmer, so wie alle in diesem Haus in Russian Hill, aber schön geschnitten und wohnlich eingerichtet. Reuben saß im Ledersessel seines Vaters, Jim auf der Couch. Jim trug sein «Kirchen-Outfit», wie er seine schwarze Hemdbrust und den weißen Stehkragen nannte, dazu eine schlichte schwarze Hose und ein schwarzes Jackett. Zivil trug er praktisch nie.
    Er fuhr sich mit den Fingern durchs braune Haar und sah seinen Bruder an, doch Reuben war ihm schon seit Tagen fremd. Er sah die blauen Augen seines Bruders, die blasse Haut und die schmalen Lippen. Reuben war immer schon der Attraktivere von ihnen gewesen, obwohl auch Jim gut aussah.
    «Ich mache mir deinetwegen Sorgen», sagte Jim.
    «Nur zu verständlich», sagte Reuben.
    «Unter anderem wegen der Art, wie du redest. So sorglos und direkt und … einfach seltsam.»
    «Ich rede doch nicht seltsam!», widersprach Reuben und fand, dem sei nichts hinzuzufügen. Konnte Jim sich denn nicht vorstellen, was er durchgemacht hatte? Oder war er allem Weltlichen schon zu sehr entrückt? Marchent war tot, und er selbst wäre beinahe gestorben. Das war nicht gerade wenig.
    «Ich hoffe, du weißt, dass wir alle zu dir stehen», sagte Jim.
    «Du untertreibst», sagte Reuben.
    Jim lächelte gequält.
    «Verrate mir eins», sagte Reuben. «Du kommst in Tenderloin doch mit vielen Menschen zusammen, ganz ungewöhnlichen Menschen, und du nimmst ihnen die Beichte ab, seit Jahren.»
    «Das stimmt», sagte Jim.
    «Glaubst du an das Böse? Ich meine das ganz abstrakte Böse an sich.»
    Zuerst war Jim sprachlos. Dann befeuchtete er sich die Lippen und sagte: «Diese Killer … Es waren Junkies. Ihre Tat hatte einen ganz banalen Hintergrund …»
    «Nein, Jim, das meine ich nicht. Ich kenne die Geschichte der Brüder. Was ich wissen will, ist … Hast du manchmal das Gefühl, dass du das Böse spüren kannst, das bestimmte Menschen ausstrahlen? Oder spürst du, wenn jemand drauf und dran ist, etwas Böses zu tun?»
    Jim dachte nach,

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