Das Geschenk der Wölfe
beschrieb das pittoreske dreistöckige Gebäude mit dem umgebenden Eichenwald und den schattigen Wildblumenwiesen, auf denen Mohn, Margeriten und Azaleen wuchsen.
Immer mehr Eltern kamen zur Schule, und Polizisten schirmten sie von den Reportern ab, während sie sie ins Gebäude begleiteten. Frauen weinten, die Reporter rückten den Betroffenen auf den Leib, zertrampelten die Blumen, schubsten und drängelten. Die Polizisten verloren langsam die Nerven.
Reuben suchte sich ein ruhiges Fleckchen im hinteren Teil des Schulgeländes.
Bei den Eltern handelte es sich zumeist um Ärzte, Anwälte oder Politiker. Die Goldenwood Academy war eine experimentelle, aber prestigeträchtige Schule. Zweifellos würde die Lösegeldforderung horrend sein. Die Polizisten zu befragen war sinnlos, da bereits das FBI hinzugezogen worden war.
Sammy Flynn, der junge Fotograf des
Observer
, kämpfte sich irgendwann zu Reuben durch und fragte ihn, was er tun solle. «Fang alles ein, was du kriegen kannst», sagte Reuben ungeduldig. «Den Sheriff auf der Veranda und vor allem die Atmosphäre der Schule.»
Allerdings fragte er sich, wozu das gut sein sollte. Wenn er in der Vergangenheit über große Verbrechen berichtet hatte, war es ihm immer vorgekommen, als bereitete die Presse den Verbrechern geradezu eine Bühne. Dieses Mal war er sich da jedoch nicht so sicher. Möglicherweise hatte ja tatsächlich jemand etwas gesehen, und wenn die Leute zu Hause im Fernsehen diese Bilder sahen und von der Entführung hörten, würde ihnen vielleicht erst klar, was sie da gesehen hatten, riefen an und gaben der Polizei wichtige Hinweise.
Er hielt sich im Hintergrund und lehnte an der rauen Rinde einer niedrigen Buscheiche. Es roch nach Piniennadeln und anderen Pflanzen, und unwillkürlich musste er wieder an seinen Spaziergang mit Marchent denken. Plötzlich überkam ihn eine seltsame Unruhe. Machte es ihn unglücklich, dass er hier und nicht dort war? Würde ihn das ebenso grandiose wie rätselhafte Anwesen, das er geerbt hatte, dazu bringen, seinen Job zu vernachlässigen?
Warum stellte er sich diese Frage erst jetzt?
Er schloss kurz die Augen. Hier tat sich nicht viel. Der Sheriff sagte immer wieder das Gleiche, und immer wieder wurden ihm aus der Menge der Reporter und Schaulustigen die gleichen Fragen gestellt.
Dann gesellten sich andere Stimmen in die Geräuschkulisse. Einen Moment lang glaubte Reuben, mehr Leute seien angekommen, doch dann wurde ihm klar, dass die neuen Stimmen, die er hörte, aus dem Inneren des Gebäudes kamen. Eltern schluchzten verzweifelt. Lehrer gaben Platituden von sich. Man machte sich gegenseitig Mut, obwohl es keinen Grund dafür gab.
Reuben wurde immer unruhiger. Nein, er würde nicht darüber schreiben, was die Leute im Haus sagten. Er versuchte wegzuhören, doch dann fragte er sich plötzlich:
Warum, zum Teufel, kann ich hören, was dadrinnen gesprochen wird? Was soll das, wenn ich nicht darüber schreiben darf?
Abgesehen davon gab es nicht viel anderes, worüber man schreiben konnte.
Er notierte das Erwartbare. Eltern brachen unter der Belastung zusammen. Immer noch keine Lösegeldforderung. Reuben war zuversichtlich, das verifizieren zu können. Immerhin berichteten das die Stimmen im Haus, und der Krisenmanager versicherte den verzweifelten Eltern, dass ein entsprechender Anruf bestimmt bald eingehen würde.
Die Menge vor dem Haus sprach von der Schulbusentführung von Chowchilla, die in den siebziger Jahren Aufsehen erregt hatte. Damals war niemand verletzt worden. Lehrer und Schüler waren von ihrem Bus in einen Lastwagen verfrachtet und in einen unterirdischen Steinbruch verschleppt worden, aus dem ihnen die Flucht gelang.
Was kann ich tun, um zu helfen?, fragte sich Reuben. Effektiv zu helfen. Plötzlich fühlte er sich erschöpft und erregt zugleich. Vielleicht war er noch nicht so weit, wieder arbeiten zu können. Vielleicht wollte er nie wieder arbeiten.
Als bis sechs Uhr nichts Neues geschehen war, fuhr er nach Hause.
Immer noch litt er unter seltsamen Erschöpfungszuständen, die kamen und gingen, obwohl er sonst kerngesund war. Grace hielt es für die Nachwirkungen der Narkose, die er während der Bauchoperation bekommen hatte. Auch die Nebenwirkungen der Antibiotika, die er immer noch einnehmen musste, seien nicht zu unterschätzen.
Gleich als er zu Hause ankam, verfasste er einen einfühlsamen Bericht für die Morgenausgabe des
Observer
, über den er nicht groß nachzudenken brauchte,
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