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Das Geschenk der Wölfe

Das Geschenk der Wölfe

Titel: Das Geschenk der Wölfe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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nur Verfehlungen.»
    Niemand sagte etwas.
    «Denke nur an die Genesis, mein Sohn», fuhr Phil fort. «Die Geschichte von Adam und Eva – sie haben einfach nur eine Verfehlung begangen.»
    Reuben dachte nach und wollte nichts erwidern, wusste aber, dass es von ihm erwartet wurde.
    «Das war’s, was ich befürchtet hatte», sagte er. «Kann ich mir ein Paar Schuhe von dir leihen, Dad? Du trägst doch Größe vierundvierzig, oder?»
    «Kein Problem, Sohn. Ich habe einen ganzen Schrank voller Schuhe, die ich nie trage.»
    Reuben nickte und dachte an das Haus in Mendocino, an die vielen kleinen Tontafeln mit Keilschrift, an das Zimmer, in dem er mit Marchent geschlafen hatte. Noch sechs Wochen! Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.
    Er stand auf, ging langsam aus dem Esszimmer und die Treppe hinauf.
    Kurz darauf saß er in seinem Zimmer am Fenster und blickte auf die Golden Gate Bridge, die sich in der Ferne erhob. Nach einer Weile kam Celeste herein, um zu sagen, dass sie jetzt ins Büro zurückfahren würde.
    Reuben nickte.
    Sie legte ihm den Arm um die Schultern. Langsam hob er den Kopf und sah zu ihr auf.
Wie hübsch sie ist
, dachte er.
Nicht so abgeklärt und elegant wie Marchent, aber frisch und süß.
Ihr Haar war ein schimmerndes Braun, auch ihre Augen waren braun, und sie hatte ein lebhaftes Gesicht. Früher war sie ihm nie zerbrechlich erschienen, aber jetzt sah er sie so: frisch, unschuldig und sehr, sehr zerbrechlich.
    Warum hatte sie ihn bloß immer so nervös gemacht? Warum war es immer so anstrengend gewesen, ihren Erwartungen zu entsprechen, ihr Tempo mitzugehen, ihren intellektuellen Ansprüchen zu genügen?
    Sie wich so plötzlich zurück, als hätte sie sich über irgendetwas erschrocken. Sie trat mehrere Schritte zurück und starrte Reuben dabei unverwandt an.
    «Was hast du denn?», fragte er. Er hatte keine Lust, mit ihr zu reden, aber offensichtlich fühlte sie sich unwohl, und es war eine Frage des Anstands, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.
    «Ich weiß nicht», sagte sie und rang sich ein Lächeln ab, das aber gleich wieder erstarrte. «Ich hätte gerade schwören können, dass du plötzlich jemand anders bist … ein Fremder, der mich mit Reubens Augen ansieht.»
    «Ach was! Ich bin’s doch bloß», sagte er und lächelte.
    Aber Celeste entspannte sich nicht, sondern verabschiedete sich schnell. «Wir sehen uns dann beim Abendessen.»
    Reuben wollte einen Braten machen und freute sich darauf, die Küche für sich zu haben.
    Als Celeste gegangen war, kam die Krankenschwester herein, um ihm eine Spritze zu geben. Es war ihr letzter Tag.

[zur Inhaltsübersicht]
    5
    E s war Freitag, und Reuben saß über den Papieren, die ihm wegen der Übernahme des Hauses in Mendocino zugeschickt worden waren, als er einen Anruf vom
San Francisco Observer
bekam: Ein vollbesetzter Schulbus der Goldenwood Academy in Marin County war entführt worden.
    Reuben warf sich eine alte Cordjacke seines Vaters über, rannte die Treppe hinunter, sprang in seinen Porsche und raste in Richtung Golden Gate Bridge.
    Im Autoradio berichteten alle Sender darüber. Doch so brisant die Meldung auch war – man wusste nicht mehr, als dass zweiundvierzig Schüler zwischen fünf und elf Jahren sowie drei Lehrerinnen spurlos verschwunden waren, nachdem ein Beutel mit den Handys der Schüler in einer Telefonzelle am Highway  1 gefunden worden war. An dem Beutel hing ein Zettel mit der Aufschrift: «Warten Sie auf unseren Anruf!»
    Um drei kam Reuben bei dem hübschen alten Gebäude an, das die Privatschule beherbergte. Viele Fotografen, Kameramänner und Reporter waren bereits da, und immer mehr strömten herbei, hauptsächlich von regionalen Fernseh- und Radiosendern.
    Celeste bestätigte telefonisch, dass niemand wusste, wohin die Schüler gebracht worden waren, und dass bis jetzt keine Lösegeldforderung eingegangen war.
    Reuben gelang es, mit einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin der Schule zu sprechen, die das Haus als wahre Idylle beschrieb und die Lehrer als «Erdmuttern» und die Schüler als «Blumenkinder» bezeichnete. Die Schüler hatten sich auf einem Ausflug in die nahegelegenen Muir Woods befunden, um dort einige der eindrucksvollsten Redwoodbäume der Welt zu bewundern.
    Die Goldenwood Academy war eine unkonventionelle, teure Privatschule, aber der schuleigene Bus war alt und hatte weder GPS noch Telefon.
    Billie Kale setzte zwei Reporter auf die Recherche an.
    Reuben tippte wie wild auf seinem iPhone herum und

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